Die neue EU-Euphorie "Europa ist kein Todgeweihter"
26.03.2017, 11:12 Uhr
Ein ungewohntes Bild: Ein blaues Fahnenmeer auf dem Berliner Gendarmenmarkt.
(Foto: imago/Mauersberger)
Der Zulauf ist rasant. Seit Kurzem demonstrieren Tausende sonntags in den Städten Europas - ausgerechnet für die EU. Was sie treibt und was auf dem Spiel steht, erklärt der Initiator der Kundgebungen, der Anwalt Daniel Röder, im Gespräch mit n-tv.de.
n-tv.de: Seit Ende November demonstriert Ihre Initiative "Pulse of Europe" jeden Sonntag für Europa. Warum gehen Sie auf die Straße?
Daniel Röder: Das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten - beide Ereignisse haben uns vor Augen geführt, dass die Welt aus den Fugen geraten ist und plötzlich Dinge möglich sind, die zuvor unmöglich erschienen. In beiden Ländern wurde danach demonstriert. Wir haben uns gesagt: Das darf in Europa nicht passieren, das hätte man vorher verhindern können. Gerade mit Blick auf die Abstimmungen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland wollten wir das anders machen und vor den Wahlen für das auf die Straße gehen, was uns erhaltenswert erscheint.
Was wollen Sie erreichen?
Die Zivilgesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren ziemlich zurückgezogen. Wir möchten die Menschen wieder politisieren und die demokratischen und proeuropäischen Kräfte stärken. Die europäische Idee und unsere Grundwerte müssen erhalten werden. Europa muss von der Zivilgesellschaft getragen sein, ansonsten funktioniert es nicht. Dem europäischen Projekt muss wieder Leben eingehaucht werden - daher auch der Name "Pulse of Europe". Europa ist kein Todgeweihter.
Was begeistert Sie so an diesem umstrittenen Projekt?
Der Anwalt Dr. Daniel Röder hat die Initiative "Pulse of Europe" gemeinsam mit seiner Frau initiert. Die erste Demonstration fand Ende November in Frankfurt statt. Seitdem finden jeden Sonntag um 14 Uhr Kundgebungen für Europa statt – mittlerweile in rund 60 Städten. Bis zu den Wahlen in Frankreich sollen die Demonstrationen im Wochenrythmus stattfinden. Auch danach sind regelmäßige Kundgebungen geplant sowie unter anderem Petitionen und Diskussionsforen.
Die EU ist eines der größten Friedensprojekte in der Nachkriegszeit. Früher haben sich die Völker Europas immer auf dem Schlachtfeld getroffen, seit der Nachkriegszeit ist das nicht mehr so. Wichtig ist, dass es nur der EU – und nicht den einzelnen Nationalstaaten – gelingen kann, die großen Probleme wie Klimawandel, Armutsbekämpfung und Migrationsströme anzugehen. Seitdem die USA bei diesen Themen ausfallen, muss die EU hier eine Vorreiterrolle spielen. Außerdem begeistert mich das Leitmotto "In Vielfalt geeint". Das Einzigartige an Europa ist, dass wir auf engem Raum unterschiedliche Kulturen verbinden und dass diese sich zusammenfinden und auf ihre gemeinsamen Wurzeln besinnen. Der Wohlstand spielt zwar auch eine Rolle, ist aber nebensächlich.
Und doch ist die EU-Skepsis inzwischen weit verbreitet. Können Sie das Unbehagen an Europa verstehen?
Es wurde viel Negativwerbung betrieben, besonders von den Mitgliedsstaaten selbst. Für die nationalen Regierungen ist es leicht, auf Europa zu schimpfen. Einen richtigen Verantwortlichen gibt es nicht und da sich keiner beleidigt fühlt, wenn man alle Schuld auf Europa schiebt, ist das ein probates Mittel der Politik geworden. Das muss unbedingt aufhören. Dann kommt hinzu: Die Mitgliedstaaten denken häufig vor allem national. Im Europäischen Rat findet das Gerangel um nationale Interessen statt, viel zu selten hält da auch der europäische Gedanke Einzug. Da brauchen wir mehr Solidarität. Der Diskurs muss anders geführt und Europa positiv vermittelt werden.
Wie soll das gelingen?
Die Mitgliedstaaten müssen sich anders zu Europa zu verhalten. Sie müssen auch mal nationale Interessen zurückstellen und solidarischer werden. Dann kann die EU viele Themen wie beispielsweise die Flüchtlingskrise bewältigen. Außerdem muss klargemacht werden: Für viele Probleme, für die die EU haftbar gemacht wird, kann sie nichts. Das zeigt sich etwa bei der Gerechtigkeitsdebatte und der Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. Das Budget, das die EU hierfür von den Mitgliedstaaten bekommt, ist viel zu gering. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem eine Aufgabe der Staaten, um die es geht – und nicht der EU. Es sei denn, die Mitgliedsstaaten übertragen mehr Kompetenzen.
In der kommenden Woche beantragt Großbritannien seinen Austritt aus der EU. Wie groß ist die Gefahr, dass Europa zerfällt?
Die Bedrohungen für Europa sind sehr groß, innen wie außen. Ein Brexit wird sehr weitreichende Konsequenzen haben und zu einer unfassbaren Destabilisierung führen. Wir werden in Irland eine neue EU-Außengrenze bekommen, die das Potenzial hat, den Nordirlandkonflikt wieder aufflammen zu lassen. Bis zum Friedensabkommen von 1998 war die Region eines der gefährlichsten Gebiete Europas. Möglicherweise treten die Schotten aus Großbritannien aus, Wales ist ein Thema, das Kapital wird komplett umgelenkt. Und das ist nicht alles: Die Beziehungen zu Russland, zur Türkei und auch innerhalb der EU sind belastet, die noch demokratischen Systeme in Polen und Ungarn sind hochproblematisch, die wachsende EU-Skepsis in Staaten wie Österreich schwierig.
Immerhin gehen mittlerweile Zehntausende für Europa auf die Straße. Hat Sie der Erfolg Ihrer Bewegung überrascht?
Als wir die Initiative starteten, waren wir vor allem von Bürgerpflicht und Courage motiviert. Wir hatten keinen Reißbrettplan und keine Zielgrößen. Es ist toll und beeindruckend, wenn aufgrund einer Wohnzimmeridee mittlerweile 30.000 Menschen in zehn europäischen Ländern auf die Straße gehen.
Mit Daniel Röder sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de