Politik

Zwischen Selbstgerechtigkeit und Macht Grüne wollen nicht alle Flüchtlinge behalten

"Vor wenigen Monaten habe ich Zelte noch abgelehnt, heute muss ich welche aufbauen", räumt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, ein.

"Vor wenigen Monaten habe ich Zelte noch abgelehnt, heute muss ich welche aufbauen", räumt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, ein.

(Foto: imago/Felix Abraham)

Wie viel Pragmatismus darf es in der Flüchtlingskrise sein? Ziemlich viel, das wird auf dem Parteitag der Grünen in Halle deutlich. Erstaunlicherweise ist der größte Verlierer der Debatte trotzdem ein Realo.

Seit Jahren oszillieren die Grünen in der Flüchtlingspolitik zwischen purem Idealismus und machtbewussten Pragmatismus. Die Schwingungen in der Partei schlagen allerdings immer heftiger zum Pragmatismus aus. Das zeigte sich beim Auftakt der Bundesdelegiertenkonferenz, dem Parteitag der Grünen in Halle.

Robert Habeck zählte zu den am heftigsten beklatschen Rednern. Und er sagte Sätze wie: "Ich finde, dass der Sound der Selbstgerechtigkeit der Schwierigkeit des Problems nicht gerecht wird." Mit dem "Sound" meint er die Stimmen der Kritiker der Asylkompromisse, die Grüne zuletzt mitgetragen haben.

  • 2014 erklärte die Große Koalition Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten. Die grünen Länder machten das durch ihre Zustimmung im Bundesrat möglich. Dafür gab es unter anderem Lockerungen bei der Residenzpflicht und Erleichterungen bei der Arbeitsaufnahme für Flüchtlinge.
  • 2015 stimmten die grünen Länder für das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, das neben schnelleren Abschiebungen weitere sichere Herkunftsstaaten definierte und Sachleistungen in Flüchtlingsunterkünften wiedereinführte. Dafür versprach die Koalition unter anderem mehr Wege für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen zu öffnen, und einen leichteren Zugang zu Integrationskursen.

Er sehe sich wegen dieser Kompromisse nicht als Verräter der grünen Ideologie, sagte Habeck. Wenn diese Haltung zu einer linken Politik gehöre, "dann hab ich da kein Bock drauf". Habeck sprach sich für Realismus in der Debatte aus, um mitgestalten zu können. Der 46-Jährige hat sich dafür beworben die Grünen 2017 als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl zu führen und ihm werden unter den Delegierten große Chancen attestiert. "Wenn wir so weit gehen, dass wir sagen Regierungsbeteiligung ist immer Verrat, brauchen wir gar nicht mehr in die Regierung", sagte er. "Ich will aber in die Regierung."

Unterstützung fand Habeck von Politikern wie dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der die schwierige Lage von Grünen in Regierungsverantwortung mit einem Satz auf den Punkt brachte: "Vor wenigen Monaten habe ich Zelte noch abgelehnt, heute muss ich welche aufbauen."

Parteichef Cem Özdemir verwies auf die integrationspolitischen Herausforderungen bei einigen Zuwanderern und wandte sich gegen jedwede Form des Fundamentalismus. "Kein heiliges Buch steht über unserem Grundgesetz."

Rote Linien und pechschwarze Politik

Auf der anderen Seite des grünen Spektrums meldete sich Jamila Schäfer, die Sprecherin der grünen Jugend, zu Wort: "Wir verstehen nicht, dass sich Grüne von der Bundesregierung erpressen lassen. Hier kann man nicht von Licht und Schatten sprechen", sagte sie über die Kompromisse der vergangenen Jahre. Ihre Grüne Jugend plädierte unter anderem dafür, Flüchtlinge frei wählen zu lassen, in welchem europäischen Land sie leben (Free-Choice-Modell). Eine Abkehr vom Kurs der Parteispitze, die einen europäischen Verteilschlüssel unterstützt.

Astrid Rothe-Beinlich griff Kretschmann an und sagte, dass Thüringen es geschafft habe, Flüchtlinge nicht in Zelte zu pferchen – ohne den Kompromissen zugestimmt zu haben. Sie sei deshalb froh aus Thüringen zu kommen.

Es war in der Debatte viel von roten Linien die Rede, vom Ausspielen von Werten gegeneinander. Es gab heftige Kritik am Kurs der CSU, die zeitgleich ihren Parteitag in München abhielt. Dabei war von "grauen Männern" die Rede, die "pechschwarze Politik" betreiben. Widerwehr gab es auch gegen die Pläne der Großen Koalition, die Familienzusammenführung einzuschränken, die Debatte über Transitzonen und eine Rückkehr zum Dublin-Verfahren. Doch in dem entsprechenden Antrag der Parteispitze heißt es auch ausdrücklich: "Einwanderung und Integration braucht pragmatische Lösungen."

Palmer soll sich nicht vom Feuilleton abfeiern lassen

Der Parteitag lehnte in diesem Sinne fast alle Änderungsanträge ab, die allzu idealistisch daherkamen. Dazu gehörte der Wunsch der Grünen Jugend nach dem Free-Choice-Modell, aber auch der Versuch, einen Satz zu streichen, der Grünen vor ein paar Jahren kaum über die Lippen gekommen wäre: "Dabei ist klar, dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können."

Paradoxerweise war der größte Verlierer des ersten Tages in Halle trotzdem ein Realo: der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer. Der hatte kürzlich in einem Gastbeitrag im Gestus des man-wird-doch-nochmal-sagen dürfen über mangelnde Konsensfähigkeit seiner Partei geklagt. In einem früheren Text für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb er zudem: "Für die Grünen ist es schmerzhaft, dass das Boot keineswegs voll ist, aber zu kentern droht."

Bei Palmer-Bashing war auf dem Parteitag Applaus gewiss. Die Grüne Parteichefin Katrin Göring-Eckardt sagte, in Tübingen gehe es den Menschen nun wirklich gut. "Ich will dass du dich an die Spitze stellst und sagst: Ich bin Grüner, und deswegen schaffen wir das." Claudia Roth formulierte es noch schärfer: "Grün sein, heißt nicht, sich vom Feuilleton abfeiern zu lassen, weil man Angela Merkel von rechts angreift." Ganz so weit, ist es mit dem grünen Pragmatismus dann also auch wieder nicht gekommen.

Quelle: ntv.de

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