
Christian Lindner am Morgen danach in der Parteizentrale der FDP.
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Wer die Verantwortung für das Ende der Sondierungsgespräche trägt, ist eigentlich egal - wichtig ist, welche Erzählung sich jetzt durchsetzt. Bei der Union scheint es nur bei wenigen den Wunsch zu geben, die Version der FDP zu stützen.
Nach der Bundestagswahl 2013, nachdem die schwarz-grünen Sondierungsverhandlungen gescheitert waren, war die Union in einem Punkt höchst erfolgreich. In so gut wie jedem Hintergrundgespräch betonten Politiker von CDU und CSU, an wem es gelegen habe, dass keine Regierung mit den Grünen zustande kam: an Jürgen Trittin.
Diese Sicht, dieser "Spin", setzte sich durch - so sehr, dass sogar Grüne dieser Erzählung irgendwann nur noch halbherzig widersprachen. Im Wahlkampf sagte der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bei einem bemerkenswerten Auftritt mit dem Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir in der Talkshow von Anne Will, Trittin habe damals nach stundenlangen Sondierungsgesprächen gemerkt, "das könnte ja zu einer Koalition führen, und da hat er eingegriffen".
Die Grünen dürften bei den Jamaika-Sondierungen gelegentlich an Schäubles Äußerungen gedacht haben, und wahrscheinlich hatte Schäuble genau das damit beabsichtigt. Jedenfalls signalisierten ihre Verhandlungsführer Özdemir und Katrin Göring-Eckardt immer wieder Kompromissbereitschaft. Und wieder ist es Trittin, der jetzt in jeder Geschichte über das Platzen der Sondierungen seinen Auftritt hat: In der "Bild am Sonntag" zog er mehrere rote Linien und warf der FDP vor, schuld am Stocken der Gespräche zu sein. Bei der Frage, ob die Aussetzung des Familiennachzugs verlängert werden solle, hätten die Liberalen "den Schulterschluss mit der CSU gesucht und so jede Bewegung für die Union schwer gemacht". Die FDP war empört. Demonstrativ erschien Parteichef Christian Lindner zu den Sondierungen am Sonntag mit einer "BamS" in der Hand.

Am Sonntagmorgen brachte Christian Lindner eine "Bild am Sonntag" mit zu den Sondierungsverhandlungen.
(Foto: dpa)
Es war dieses Mal jedoch nicht Trittin, der die Sondierungen platzen ließ - das war Lindner. Aus der Union heißt es, was der FDP-Chef am Sonntagabend abgezogen habe, sei Theater gewesen, die Presseerklärung sei schon im Vorfeld geschrieben worden. Tatsächlich hielt Lindner, als er vor der baden-württembergischen Landesvertretung stand, einen Zettel in der Hand, auf den er gelegentlich guckte, als er den Journalisten mitteilte, die FDP habe die Sondierungen verlassen.
Menschliche Nähe zwischen Union und FDP?
Lindner weiß natürlich, dass es jetzt darum geht, nicht als derjenige dazustehen, an dem es gelegen hat. Bei seiner nächtlichen Ausstiegserklärung erwähnte er die Grünen mit keinem Wort. Er sagte: "Wir werfen ausdrücklich niemandem vor, keinem unserer drei Gesprächspartner, dass er für seine Prinzipien einsteht." Aber er sagte auch, die Unterschiede zwischen Union und FDP seien überbrückbar gewesen. Zwischen CDU, CSU und FDP sei "eine neue politische Nähe, auch menschliche Nähe gewachsen".
Mit anderen Worten: Aus Sicht der FDP liegt die Schuld bei den Grünen. Am nächsten Morgen präsentiert der FDP-Politiker Hermann Otto Solms eine erweiterte Version der Schuldfrage: "In den Gesprächen hat sich herausgestellt, dass insbesondere die CDU so weiter machen wollte wie bisher, nur mit anderen Partnern", sagt er bei n-tv. Die Kanzlerin sei dann beweglich gewesen, wenn Forderungen der Grünen befriedigt werden sollten. "Auf unsere Forderungen ist sie überhaupt nicht eingegangen."
Zweifellos sind diese Befunde nicht falsch. Wenn vier Partner über eine Koalition verhandeln und die Gespräche scheitern, dann liegt die Verantwortung nicht bei einer Partei allein - auch vor vier Jahren dürfte die Verantwortung kaum allein bei Jürgen Trittin gelegen haben. Jetzt hat sich Merkels Strategie, die Sondierer in "Phase eins" erst einmal ausgiebig reden zu lassen, als kontraproduktiv entpuppt, was inoffiziell auch in der CDU eingeräumt wird.
Auch die besondere Situation der CSU, die sich nur notdürftig auf einen innerparteilichen Waffenstillstand bis zum Abschluss der Sondierungsverhandlungen geeinigt hatte, machte die Verhandlungen nicht leichter. Dazu kam, dass die CSU sich auf den Standpunkt stellte, sie habe in der Migrationspolitik ja schon einen Kompromiss mit der CDU gefunden. Dass es hier sowie beim Klimaschutz inhaltliche Schwierigkeiten mit den Grünen gab, war für niemanden überraschend. Für die FDP schließlich war der rasche Ausstieg aus dem Soli ein zentraler Punkt, der aus Sicht der anderen Parteien zu teuer gewesen wäre. Kurzum: Selbstredend waren dies schwierige Verhandlungen. Ein Stück weit hat jede der beteiligten Parteien zu ihrem Scheitern beigetragen.
FDP rechnet mit "verbessertem Ergebnis" bei Neuwahl
Die große, derzeit kaum zu beantwortende Frage ist allerdings, welche Erzählung sich nun durchsetzt - und ob die Union die Version der Liberalen unterstützt. Danach sieht es nicht aus. "Wenn man diejenige Kraft ist, die den Raum verlassen und die Gespräche beendet hat, sollte man sich mit Schuldzuweisungen an andere zurückhalten", sagt CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Dass Merkel es gut gemacht habe, hätten ihr schließlich die Unterhändler der Union, aber auch die der Grünen, attestiert.
Merkel selbst hatte in der Nacht gesagt, sie glaube, "dass wir auf einem Pfad waren, auf dem wir hätten eine Einigung erreichen können". Dieser vorsichtigen Schuldzuweisung in Richtung FDP schließt sich sogar die CSU an. Deren Generalsekretär Andreas Scheuer sagt bei n-tv, die Entscheidung der FDP sei "sehr schade". Jeder habe sich bewegt, für jeden sei klar gewesen, dass für CDU und CSU die Begrenzung der Zuwanderung eine wichtige Rolle spielt. Drei Partner hätten weniger Zuwanderung gewollt, einer habe mehr Zuwanderung gewollt, fügt er mit Blick auf die Grünen hinzu. Doch er formuliert daraus keine Kritik an der Öko-Partei, sondern er sagt: Man hätte eine Lösung finden können.
Einen etwas anderen Akzent setzt CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Auch er lobt Merkels "tolle Verhandlungsführung", doch anders als Tauber hebt er die Nähe zur FDP hervor. Alleine wären Union und FDP "in zwei Wochen fertig gewesen", sagt er im ZDF.
Dass die Grünen die Verantwortung für das Platzen der Sondierungen allein der FDP geben, liegt auf der Hand. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner betont bei n-tv die "gemeinsam geteilte Fassungslosigkeit" von CDU, CSU und Grünen über das Verhalten der FDP. Von den jetzt anstehenden Optionen - Neuwahlen, Minderheitsregierung oder Große Koalition - finde er keine "sonderlich prickelnd". Auch Unionspolitiker lassen durchblicken, dass sie noch nicht auf Neuwahlen schielen. "Das geht mir zu schnell", sagt etwa Spahn bei n-tv.
Nur die FDP scheint sich zu freuen. "Ich erwarte bei einer möglichen Bundestagswahl ein verbessertes Ergebnis für die FDP", sagt Solms. Ob diese Erwartung sich erfüllt, wird stark davon abhängen, welcher Spin sich durchsetzt. Im Moment steht Lindner, zu Recht oder zu Unrecht, als neuer Trittin da. Das hatte er sich vermutlich anders vorgestellt.
Quelle: ntv.de