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Wissing muss nicht nachlegen Klima-Expertenrat vom Kanzler "überrascht"

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In den Sektoren Verkehr und Gebäude wurden 2022 mehr Treibhausgase emittiert als im Vorjahr.

In den Sektoren Verkehr und Gebäude wurden 2022 mehr Treibhausgase emittiert als im Vorjahr.

(Foto: picture alliance/dpa)

Für den Klima-Expertenrat kam es "überraschend", dass das Kanzleramt das Bundesverkehrsministerium von der Pflicht für ein Klimasofortprogramm befreit hat. "Das Klimaschutzgesetz ist geltendes Recht", sagt der Vorsitzende des Gremiums, Hans-Martin Henning, "und es gilt, bis das Parlament die von der Koalition geplanten Änderungen verabschiedet hat und ein novelliertes Gesetz in Kraft ist."

Hans-Martin Henning ist Vorsitzender des von der Bundesregierung berufenen Klima-Expertenrats. Er hat einen Lehrstuhl für Solare Energiesysteme an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist Co-Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme.

Hans-Martin Henning ist Vorsitzender des von der Bundesregierung berufenen Klima-Expertenrats. Er hat einen Lehrstuhl für Solare Energiesysteme an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist Co-Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme.

(Foto: IMAGO/Future Image)

ntv.de: Sie haben der Bundesregierung in Ihrem aktuellen Prüfbericht bescheinigt, dass die deutschen Treibhausgasemissionen im vergangenen Jahr um 1,9 Prozent gesunken sind. Warum hat das Hochfahren der Kohleverstromung nicht die Bilanz verhagelt?

Hans-Martin Henning: In der Energiewirtschaft haben wir in der Tat eine Zunahme der Emissionen beobachtet. Da spielt vor allem der Wechsel von Erdgas und Kernenergie zu Kohle eine Rolle, teilweise auch von Erdgas zu Erdöl. Aber wir haben zugleich in anderen Sektoren gegenläufige Effekte. Insbesondere in der Industrie gab es eine starke Absenkung der Emissionen, die vorrangig damit zu tun hat, dass die energieintensive Industrie ihre Produktion aufgrund der hohen Energiepreise zeitweise zurückgefahren hat. Auch im Gebäudesektor hatten wir eine Reduktion, die aber nicht ausreicht, um das Jahresziel zu erfüllen.

Ist der Rückgang der Emissionen im Gebäudesektor denn als Erfolg zu sehen?

Nur bedingt. Hier haben vor allem auch der milde Winter und das sparsame Verhalten der Haushalte und Verbraucher eine Rolle gespielt.

Aber insgesamt klingt Rückgang, als wäre Deutschland auf dem richtigen Weg.

Nein. Bei der Fortschreibung haben wir uns auf das letzte Jahr vor der Pandemie bezogen, auf 2019, weil wir 2020 und 2021 durch Corona Sondersituation hatten. Wenn man die Entwicklung von 2019 bis 2022 linear nach vorne projiziert, dann sieht man, dass die Absenkung bei weitem nicht ausreicht, um die 65 Prozent Minderung bezogen auf 1990 im Jahr 2030 zu erreichen. Da schaffen wir nur eine Minderung von etwas mehr als 50 Prozent. Und hätten wir 2022 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes gehabt, wie es vor dem Krieg prognostiziert worden war, dann hätten einer Überschlagsrechnung zufolge die Emissionen um neun Millionen Tonnen höher gelegen. Ohne den Industrieeffekt, ohne die höheren Energiepreise und ohne den milden Winter wären die Emissionen also insgesamt wahrscheinlich auf dem gleichen Level gewesen wie im Vorjahr.

Dass der Ausstoß von Klimagasen in Rezessionen zurückgeht, ist ja schon häufiger festgestellt worden. Ist denn ein Entkoppeln von CO2-Ausstoß und Wirtschaftswachstum realistisch?

In unserem Zweijahresgutachten haben wir uns die Emissionsentwicklung über die letzten zwanzig Jahre angeschaut. Da sieht man (pdf), dass Deutschland - von einzelnen Einbrüchen abgesehen - insgesamt ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum hatte, zugleich aber auch eine Absenkung der Emissionen. Insofern ist eine partielle Entkopplung zu beobachten.

Grafik aus dem Zweijahresgutachten des Expertenrats vom November 2022. Die obere Linie zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, die schwarz gepunktete Linie bildet die Emissionsentwicklung ab.

Grafik aus dem Zweijahresgutachten des Expertenrats vom November 2022. Die obere Linie zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, die schwarz gepunktete Linie bildet die Emissionsentwicklung ab.

(Foto: Expertenrat für Klimafragen)

Die größten Sorgen bereiten Ihnen die Sektoren Verkehr und Gebäude. Ist es da nicht richtig, dass die Bundesregierung ermöglichen will, dass andere Sektoren, die vielleicht erfolgreicher sind, einspringen können? Dass ein zu hoher Ausstoß beim Verkehr etwa mit einer guten Einsparung anderswo verrechnet werden kann?

Grundsätzlich ist es natürlich irrelevant, woher die Emissionen kommen. Aber, erstens: Der Pfad in Richtung der von der Bundesregierung beschlossenen Klimaziele bis 2030 ist für alle Sektoren ambitioniert. Wir haben deshalb wenig Hoffnung, dass es Sektoren geben wird, die ihre Emissionen anderen Sektoren zur Verfügung stellen können. Je näher wir 2030 kommen, umso unrealistischer wird diese Hoffnung.

Und zweitens?

Wir haben nun einmal bestimmte Ressortzuständigkeiten. Es gibt ein Ministerium, das für den Verkehr zuständig ist, es gibt ein Ministerium mit Zuständigkeit für die Industrie und die Energiewirtschaft, und wir haben zwei Ministerien, die für die Gebäude zuständig sind, das Bauministerium und das Wirtschaftsministerium. Diese klaren Zuständigkeiten sind eindeutig eine Stärke des sektororientierten Gedankens, auch wenn es um die Verantwortung für Klimaschutz geht. Deshalb halten wir es für wichtig, die Sektorziele und die sektorale Berichterstattung beizubehalten, selbst dann, wenn der Steuerungsmechanismus für zu beschließende Maßnahmen geändert wird.

Wie ist es Ihrer Meinung nach zu bewerten, dass das Kanzleramt am Montag kurz nach Ihrer Pressekonferenz das Bundesverkehrsministerium von der Pflicht für ein Klimasofortprogramm befreit hat?

Ich bin kein Jurist, aber nach meinem Rechtsverständnis kam das überraschend.

Warum?

Das Klimaschutzgesetz ist geltendes Recht, und es gilt, bis das Parlament die von der Koalition geplanten Änderungen verabschiedet hat und ein novelliertes Gesetz in Kraft ist.

Im Klimaschutzgesetz heißt es, dass die zuständigen Bundesministerien innerhalb von drei Monaten Sofortprogramme vorlegen müssen, wenn der Expertenrat eine Überschreitung der zulässigen Emissionsmengen für ihre Sektoren feststellt.

Das haben wir mit Blick auf die Sektoren Verkehr und Gebäude getan. Insofern ist unsere Erwartung schon, dass auch das Bundesverkehrsministerium ein Sofortprogramm veröffentlicht - die Ministerien für Bauen und Wirtschaft haben ja schon im Sommer 2022 ein Sofortprogramm vorgelegt und bereits angekündigt, dieses zu überarbeiten

Ein Sprecher des Verkehrsministeriums verwies am Montag darauf, dass im Verkehrssektor eine Reihe von Maßnahmen bereits beschlossen sei.

Solche Maßnahmen können durchaus Teil eines Sofortprogramms sein. Aber der Verweis auf diese Maßnahmen entbindet ein Ministerium nicht von der im Klimaschutzgesetz verankerten Verpflichtung.

Würden Sie sagen, dass die Klimapolitik der Ampel insgesamt den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht?

Eine solche Bewertung würde ich ungern vornehmen. Wir haben ja leider noch kein Klimaschutzprogramm in Gänze vorliegen. Das war eigentlich schon für 2022 angekündigt, und nach dem Klimaschutzgesetz wären wir als Expertenrat verpflichtet gewesen, dazu eine Stellungnahme abzugeben. Sobald dies vorliegt, werden wir es uns ansehen.

Wenn Sie eine sehr pauschale Bewertung vornehmen müssten: Sind die Versäumnisse der Ampel größer als die der Vorgängerregierung?

Also zunächst mal kann man schon konstatieren, dass im Koalitionsvertrag eine gemeinsame Ambition formuliert war, den Ausbau der Erneuerbaren und die Klimapolitik insgesamt wirklich zu beschleunigen. Mit dem Osterpaket des vergangenen Jahres und auch jetzt mit verschiedenen Maßnahmen wurden durchaus Instrumente geschaffen, um etwa Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Durch den Krieg in der Ukraine und die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland kamen andere Themen auf die Tagesordnung. Insofern würde ich da differenzieren und die Arbeit der Bundesregierung nicht pauschal verurteilen.

Was sagen Sie zu dem generellen Einwand, Klimapolitik in Deutschland lohne sich nicht, schließlich seien wir nur für zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich?

Wir haben uns im Pariser Abkommen verpflichtet, unseren Beitrag zu leisten, wie fast alle anderen Länder der Erde auch. Ich sehe nicht, dass Deutschland das einzige Land wäre, das seine Verpflichtungen ernst nimmt. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, dass Deutschland seinen Beitrag nicht liefern sollte. Wenn jeder für sich in Anspruch nähme, als einzelnes Land nicht so wichtig zu sein, dann wird globaler Klimaschutz in der Summe nie funktionieren.

Und wie steht es mit dem Argument, Klimawandel-Verhinderung sei ohnehin gescheitert, wir sollten uns auf die Anpassung konzentrieren?

Natürlich brauchen wir Anpassung, das ist ja ganz offensichtlich, weil es längst eine Vielzahl von Veränderungen infolge der Temperaturerhöhung gibt. Aber das ist kein Entweder-Oder. Es gibt viele Belege dafür, dass jedes Zehntelgrad, das wir an Temperaturerhöhung vermeiden, kostengünstiger ist als die aufwändigen Anpassungsmaßnahmen, die bei noch höheren Temperaturerhöhungen notwendig werden.

Mit Hans-Martin Henning sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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