"Solidarischer Aufbruch" Europas Maas: Kein Land wird zurückgelassen
22.06.2020, 17:31 Uhr
Ein "kraftvoller wirtschaftlicher und sozialer Neustart" hat für Außenminister Maas Priorität.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die europäischen Staaten stehen angesichts der Corona-Krise vor schwierigen Verhandlungen über Wirtschaftshilfen. Bis Mittwoch will die Bundesregierung über den Kurs der anstehenden EU-Ratspräsidentschaft beraten. Die SPD setzt sich dabei für mehr Sozialstandards ein.
Wenige Tage vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat Außenminister Heiko Maas den von der Corona-Krise besonders stark getroffenen Ländern Solidarität zugesichert. Bei einem Besuch in der italienischen Hauptstadt Rom nannte er "einen kraftvollen wirtschaftlichen und sozialen Neustart" als oberste Priorität der sechsmonatigen Präsidentschaft, die am 1. Juli beginnt. "Wir wollen einen mutigen, aber wir wollen vor allen Dingen einen solidarischen Aufbruch. Und wir sind fest entschlossen, dabei kein Land in Europa zurückzulassen."
Italien ist das europäische Land, in dem sich das Corona-Virus zu Beginn der Pandemie am dramatischsten ausgebreitet hatte. Damals gab es dort scharfe Kritik an Deutschland. Vor allem ein deutscher Exportstopp für Atemschutzmasken, Schutzanzüge und -brillen sorgte für Unmut. Auch das kategorische Nein der Bundesregierung zur Vergemeinschaftung von Schulden über sogenannte Corona-Bonds führte zwischenzeitlich zu einer Anti-Deutschland-Stimmung. Inzwischen hat sich das aber geändert, nachdem Deutschland und Frankreich einen gemeinsamen Vorstoß für ein EU-Wiederaufbauprogramm unternommen haben, der in Italien gut angekommen ist.
Auch bei der Flüchtlingsfrage erhofft sich Italien "neuen Schwung" bei der Umverteilung von Migranten in andere EU-Länder. Das Coronavirus habe die Flüchtlingsfrage nach komplizierter gemacht, sagte Außenminister Luigi Di Maio, "die Umverteilung liegt auf Eis". Dies müsse sich nun ändern. Neben dem staatlichen Spallanzani-Institut, das in Italien führend bei der Forschung zum Coronavirus und der Behandlung von Covid-19-Patienten ist, hatte Außenminister Maas in Rom auch das Hauptquartier der EU-Marinemission "Irini" zur Bekämpfung des Waffenschmuggels nach Libyen besucht. Der SPD-Politiker forderte dabei mehr Engagement anderer Länder.
Große Koalition berät über EU-Kurs
Auch der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans erwartet von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft deutliche Fortschritte für die soziale Sicherung der Menschen. "Wir brauchen ein System europäischer Mindestlöhne, wir brauchen eine Arbeitslosenrückversicherung, wir brauchen überhaupt Mindeststandards", sagte Walter-Borjans in der ARD. "Wir müssen dafür sorgen, dass diese Europäische Union für jeden in seinem Heimatland eine Perspektive bietet." Soziale Sicherung auf dem ganzen Kontinent mache den Zusammenhalt in Europa aus.
Am Abend wollen die Spitzen der schwarz-roten Koalition im Koalitionsausschuss über den Kurs in der Europapolitik beraten. Eines der zentralen Themen dürften die erwartet schwierigen Verhandlungen über das europäische Corona-Hilfsprogramm sowie über die mittelfristige Finanzplanung sein. "In dieser wichtigen Phase muss die Bundesregierung einig sein und auch Einigkeit demonstrieren", sagte Walter-Borjans dem Redaktionsnetzwerk Deutschland mit Blick auf das Spitzentreffen.
Schuldenfreiheit bis 2058?
CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Freitag nach einer Videokonferenz mit den anderen europäischen Staats- und Regierungschefs angedeutet, dass die Verhandlungen über das 750-Milliarden-Programm zur Bewältigung der Corona-Wirtschaftskrise zu einer Zerreißprobe für die EU werden könnten. "Die Brücken, die wir noch zu bauen haben, sind groß", sagte Merkel. Sie machte zudem deutlich, dass die Zeit drängt. Mitte Juli will EU-Ratschef Charles Michel bei einem weiteren EU-Gipfel neue Vorschläge vorlegen. "Es wird schwierig, es wird komplex", sagte der Belgier.
Die Kanzlerin zeigte sich zwar mit der Grundarchitektur des erwogenen Programms zufrieden. Zugleich machte sie aber deutlich, dass es auch aus deutscher Sicht noch Änderungen geben solle. So äußerte sie Zweifel an der Datenbasis, auf deren Grundlage das Geld an die EU-Staaten verteilt werden soll. Das Geld solle aber möglichst schnell abfließen können. Daher müsse die Dauer von Genehmigungsverfahren nochmals überprüft werden, ebenso das Wettbewerbsrecht. Sie rechne aber nicht mit einer Auszahlung vor dem 1. Januar 2021.
Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag der EU-Kommission für einen schuldenfinanzierten Konjunktur- und Investitionsplan im Umfang von 750 Milliarden Euro. Davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an die EU-Staaten fließen, der Rest als Kredite. Die Schulden sollen bis 2058 gemeinsam aus dem EU-Haushalt abbezahlt werden. Verhandelt wird der Plan zusammen mit dem nicht minder umstrittenen nächsten siebenjährigen EU-Finanzrahmen, für den die Kommission 1,1 Billionen Euro ansetzt.
"Sparpolitik hat Menschenleben gekostet"
Zur Frage der Verwendung der Mittel sagte Walter-Borjans dem RND: "Der deutsch-französische Plan sieht vor, dass die europäischen Mittel für den Wiederaufbau nach Corona verwendet werden. Aus meiner Sicht könnte man das noch erweitern - um Schwachstellen, die in der Pandemie offensichtlich geworden sind." Nach der Finanzkrise hätten viele Länder staatliche Infrastrukturen und Gesundheitssysteme "kaputt gespart". "Die Corona-Krise hat die Folgen sichtbar gemacht: Die Sparpolitik hat Menschenleben gekostet. Europa braucht Gesundheitssysteme auf einem einheitlich hohen Niveau."
Die Grünen-Abgeordnete Franziska Brantner hält der Bundesregierung vor, dass eine Woche vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft dem Parlament immer noch kein Programm vorliege. Das sei "ein Affront gegenüber Bundestag und der EU", kritisierte sie. Mit Blick auf das Treffen am Abend erklärte Brantner: "Die Koalition muss heute zeigen, wohin sie mit Europa will und was es ihr wert ist. Sie sollte sich auf ein Wiederaufbauprogramm in Höhe des Kommissions-Vorschlags und einen höheren mehrjährigen EU-Haushalt mit festen Quoten für den Klimaschutz sowie ein höheres EU-Klimaziel 2030 von minus 65 Prozent verständigen." Das Programm zu EU-Ratspräsidentschaft soll am Mittwoch vom Kabinett verabschiedet werden.
Quelle: ntv.de, lri/dpa