Parlamentswahl in Großbritannien "May wäre erledigt"
04.06.2017, 11:41 Uhr
Erst seit Juli 2016 Premierministerin: Theresa May.
(Foto: picture alliance / Steve Parsons)
Premierministerin Theresa May will mit der Parlamentswahl ihre Stellung stärken. Der Großbritannien-Experte Gerhard Dannemann erklärt im Interview, warum es knapp werden könnte und die Regierungschefin sogar um ihren Job bangen muss.
n-tv.de: Wie ist die Ausgangslage eine Woche vor der Wahl in Großbritannien?

Gerhard Dannemann hat den Lehrstuhl für englisches Recht sowie britische Wirtschaft und Politik am Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin.
(Foto: HU Berlin)
Gerhard Dannemann: Es ist wieder offen. Als Theresa May die Wahl im April ausgerufen hat, sah es noch so aus, als könne sie mit einer großen Mehrheit rechnen. Die letzten Umfragen deuten eher daraufhin, dass die Tories im Vergleich zur letzten Wahl zwar zulegen können, aber Labour wahrscheinlich noch stärker. Der Abstand zwischen den beiden Parteien könnte also schrumpfen. Wegen des Mehrheitswahlsystems ist es ungeheuer schwer vorherzusagen, wie die Wahl ausgeht. Aber ein Patt im Parlament ist eine realistische Situation.
Warum ist es plötzlich wieder so knapp?
Labour hat aufgeholt, seitdem die Tories ihr Parteiprogramm veröffentlicht haben. Darin kündigen sie schmerzhafte Kürzungen im Sozialsektor an. Besonders gravierend ist, dass Demenzerkrankte sehr stark an den Behandlungskosten beteiligt werden sollen. Betroffene fürchten darum, dass sie etwa ihr Haus verkaufen müssen. Das hat sogar die wirklich nicht labournahe "Financial Times" aufgegriffen, die von einer "Demenzsteuer" sprach. Das hat den Tories geschadet und wurde erst von dem Terroranschlag in Manchester etwas überlagert.
In dieser Woche gab es ein TV-Duell. Premierministerin Theresa May wollte daran nicht teilnehmen, was ihr viel Kritik eingebracht hat. Ein Fehler?
Ja, das kam nicht gut an. May ist aber auch aus anderen Gründen in der Kritik. Sie projiziert sich gern als starke prinzipientreue Frau, aber sie ist in letzter Zeit mehrfach umgefallen. Bevor sie die Neuwahlen ausgerufen hat, gab es mehrere Versprechen, im regulären Term des Parlaments bis 2020 weiter zu regieren. Bei der "Demenzsteuer" ist May ebenfalls schnell umgekippt, als sie gemerkt hat, dass sie unpopulär ist. Ein erneutes Umfallen kann sie sich kaum leisten. Deshalb hat sie wohl beschlossen, zumindest ihre Absage an ein TV-Duell durchzuziehen. Aber wenn alle anderen Parteien ihre Spitzenkandidaten in die Runde schicken und May sich von ihrer Innenministerin vertreten lässt, ist das natürlich sehr schädlich. Das erweckt den Eindruck, dass May keine Courage hat.
Corbyn stand in der Vergangenheit stark in der Kritik, galt als unpopulär. Jetzt feiert Labour mit ihm einen Aufschwung. Wie groß ist Corbyns Anteil?
Corbyn galt nicht als sehr telegen, das ist er immer noch nicht. Aber in der TV-Debatte hat er sich gut geschlagen. Dass er jetzt punkten kann, liegt auch daran, dass der Wahlkampf in seine Kernkompetenz vorgedrungen ist: soziale Gerechtigkeit. Corbyn hat es auch gut geschafft, unangenehme Fragen zu einer früheren behaupteten Nähe zur IRA und zu anderen gewalttätigen Organisationen in den Kontext zu setzen. Er ist nicht in die Fettnäpfchen getreten, die ausgelegt waren. Dadurch hat er Labour wieder nach vorne gebracht.
Hat Corbyn theoretisch sogar die Chance, Premierminister zu werden?
Das ist theoretisch möglich. Es ist jedoch schwer vorherzusagen. Im britischen Parlament sind außer Tories und Labour noch eine ganze Reihe von Parteien vertreten. Wenn May keine Mehrheit hat, bedeutet das nicht automatisch, dass Corbyn eine hat. Die Koalitionsbildung wäre kompliziert. Eine Neuauflage der Koalition zwischen Tories und Liberalen ist fast undenkbar, wegen der grundsätzlich auseinanderliegenden Haltungen beim Thema Brexit. Auch eine Große Koalition wäre schwer vermittelbar. Die Linken träumen natürlich von einer Allianz aus Labour, den schottischen Nationalisten, Liberaldemokraten und Grünen. Aber auf der Wählerseite müsste viel passieren, damit sie zusammen eine Mehrheit haben.
Mal angenommen, die Tories bräuchten einen Koalitionspartner. Hätte dies Konsequenzen für den britischen Kurs bei den Brexit-Verhandlungen?
Ja, denn es gibt keinen richtig brexitfreundlichen Koalitionspartner. Ukip hat sehr geringe Chancen, auch nur einen Sitz im Parlament zu holen. Selbst die nordirischen Unionisten wollen einen sehr weichen Brexit, weil sie einen speziellen Status für Nordirland fordern. Die Liberaldemokraten sind eine europafreundliche Partei und die schottischen Nationalisten komplett gegen ein Ausscheiden aus dem EU-Binnenmarkt. Eigentlich müsste sich May um Labour bemühen, die in ihrem Parteiprogramm geäußert haben, dass der Brexit Tatsache sei und man nun versuchen müsse, damit möglichst positiv umzugehen.
War es rückblickend ein Fehler von Theresa May, vorgezogene Neuwahlen auszurufen?
Ich kann mir vorstellen, dass Theresa May sich das jetzt auch fragt. Sie wollte die Neuwahlen, um ihre Ausgangssituation zu verbessern. Aber selbst wenn sie sich einigermaßen achtbar schlägt, ist es gut möglich, dass sie ein ähnliches Ergebnis holt wie 2015. Dann werden sich viele Briten fragen, wofür diese Wahl jetzt gut gewesen ist.
Und wenn die Mehrheit der Tories schrumpfen oder ganz verloren gehen sollte: Könnte May darüber sogar stürzen?
Ja. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es einen neuen Premierminister geben würde, falls die Tories keine eigene Mehrheit mehr haben sollten. Dann wäre May politisch erledigt. Ich gehe davon aus, dass dann eine andere Person die Tories in eine Koalition führen würde - jemand, der nicht die ganze harte Brexit-Linie fährt und zu Kompromissen bereit wäre.
Mit Gerhard Dannemann sprach Christian Rothenberg. Das Interview wurde bereits am Freitag und damit vor dem Londoner Terroranschlag geführt.
Quelle: ntv.de