Politik

Wahl in Großbritannien Mays Risikospiel ist Corbyns Chance

Vor ihrer ersten großen Bewährungsprüfung: Premierministerin Theresa May.

Vor ihrer ersten großen Bewährungsprüfung: Premierministerin Theresa May.

(Foto: REUTERS)

Theresa May und Jeremy Corbyn, eine starke Regierungschefin und ein schwacher Herausforderer - viel Spannung schien die britische Parlamentswahl bis vor Kurzem nicht zu bieten. Aber plötzlich kippt die Stimmung.

1,277 Dollar. Das britische Pfund fiel am Mittwoch auf ein Sechs-Wochen-Tief. Die Wetten auf fallende Pfund-Kurse erreichten den höchsten Stand seit dreieinhalb Monaten. Eine Woche vor der britischen Parlamentswahl ist die Stimmung nicht nur an den Börsen nervös. Das liegt vor allem daran, dass die Wahl anders ausgehen könnte, als das noch vor Kurzem viele erwartet hätten. Die Labour-Partei und ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn erleben einen unerwarteten Aufschwung, Premierministerin Theresa May muss nach weniger als einem Jahr schon darum zittern, wieder aus ihrem Amtssitz in Downing Street 10 ausziehen zu müssen.

Dabei hatte sich die konservative Regierungschefin so viel von ihrem Manöver versprochen. Mitte April rief May plötzlich die vorgezogene Unterhauswahl aus, die regulär erst 2020 stattgefunden hätte. Sie wollte damit die Mehrheit der Tories im Parlament ausbauen und ihre Stellung vor den wichtigen Brexit-Verhandlungen mit der EU stärken. Die Ausgangslage war sogar ziemlich gut für May: In den Umfragen lagen ihre Tories damals teilweise mehr als 20 Prozentpunkte vor der kriselnden Labour-Partei. Die hadert seit Langem mit dem umstrittenen Parteichef Corbyn.

Aber nun wird es womöglich doch ziemlich knapp. In den vergangenen Wochen schnellten die Umfragezahlen für die Labour-Partei in die Höhe, die der Tories gingen runter. Zwar prognostizieren die meisten Umfragen immer noch eine absolute Mehrheit für die Konservativen, aber der Vorsprung ist deutlich geschrumpft. Für Überraschung und Verunsicherung an den Börsen sorgte in dieser Woche jedoch eine Umfrage von YouGov. Vorhersagen sind wegen des Mehrheitswahlrechts traditionell schwierig in Großbritannien. Aber laut YouGov lagen die Tories mit 42 Prozent plötzlich nur noch hauchdünn vor Labour mit 39 Prozent. Demzufolge wäre Mays Partei nach der Wahl ohne Mehrheit und künftig auf einen Koalitionspartner angewiesen.

"Wie lächerlich ist das denn?"

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Dass die Stimmung gekippt ist, liegt auch an May. In ihrem Parteiprogramm kündigten die Tories an, Demenzerkrankten höhere Eigenleistungen bei der Pflege abzuverlangen. Ein echtes Aufregerthema. "Betroffene fürchten darum, dass sie etwa ihr Haus verkaufen müssen. Das hat den Tories geschadet", sagt Gerhard Dannemann, Großbritannien-Experte an der Berliner Humboldt-Universität, n-tv.de. Die Debatte über die "Demenzsteuer" habe Mays Rivale Corbyn genutzt, dessen Kernkompetenz soziale Gerechtigkeit sei.

Von dem islamistischen Anschlag in Manchester konnte May nicht profitieren, obwohl ihre Partei für eine strikte Zuwanderungspolitik steht. Auch ansonsten läuft es nicht rund, je näher der Wahltag rückt. Am Dienstag erklärte May in einem Interview, nur sie könne Großbritannien aus der EU führen, Labour-Chef Corbyn stehe mit seinen Positionen in den Verhandlungen "allein und nackt" da. Corbyn konterte schlagfertig und nannte es als unpassend, dass May andere Menschen als nackt beschreibe. Am nächsten Tag, als eine große TV-Debatte der Spitzenkandidaten stattfinden sollte, sah die Amtsinhaberin wieder schlecht aus. Die 60-Jährige glänzte nämlich durch Abwesenheit.

Seit Beginn des Wahlkampfes hatte May erklärt, an einem solchen Format nicht teilnehmen zu wollen. Corbyn griff sie am Dienstag dafür direkt an. "Wie lächerlich ist das denn? Kommen Sie schon, Frau Premierministerin, lassen Sie uns reden." Der Labour-Chef wollte nach Mays-Absage eigentlich auch nicht an der TV-Diskussion teilnehmen, sagte aber schließlich kurzfristig doch zu. In der Debatte konnte er nach Belieben gegen May sticheln und erhielt viel Applaus. Die Spitzenfrau der Konservativen, die ihre Innenministerin als Vertreterin in die Runde geschickt hatte, konnte nicht reagieren. Schlecht für May. Von außen sah es so aus, als verweigere sie sich der Debatte mit den Bürgern und kneife vor der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern. Tim Farron, Chef der Liberaldemokraten, erklärte an May gewandt: "Wie können Sie es wagen, eine Wahl auszurufen und dann hier nicht zu erscheinen?"

"Dann wäre May politisch erledigt"

Es ist bezeichnend, dass wenige Tage vor der Wahl ein Anti-May-Song Platz sieben der britischen Charts erobert. In dem Lied "Liar, Liar", dass sich ausdrücklich gegen die Premierministerin richtet, heißt es: "Sie ist eine Lügnerin, Lügnerin, oh, sie ist eine Lügnerin, du kannst ihr nicht trauen, nein, nein, nein." Wäre May beliebt, wäre das Lied womöglich nicht so erfolgreich. "In den vergangenen drei Wochen hat sich die Situation dramatisch verändert", sagt John Curtice, Politikprofessor an der Universität von Strathclyde. Corbyn sei es gelungen, zu zeigen, dass er gar nicht so schlimm sei wie befürchtet. Corbyn profitiert von Mays Schwäche. Seine Chancen, Premierminister zu werden, waren lange, vielleicht sogar noch nie, so gut.

Und falls die Tories die Mehrheit verlieren sollten? Die Suche nach einem Koalitionspartner wäre schwierig. Keine andere Partei unterstützt den harten Brexit-Kurs der Konservativen. Die Ukip-Partei ist zu schwach, die Liberalen sind gegen den Ausstieg, die schottischen Nationalisten würden am liebsten in der EU bleiben und die nordirischen Unionisten befürworten nur einen weichen Brexit. Die Regierungsbildung würde viel Zeit in Anspruch nehmen und die Verhandlungen um den Ausstieg aus der EU weiter nach hinten verschieben. Dannemann hält es für wahrscheinlich, dass May zurücktritt, falls ihre Partei die Mehrheit verlieren sollte. "Dann wäre May politisch erledigt." In diesem Fall müsste eine andere Person die Tories in eine Koalition führen. Jemand, der beim sensiblen Thema Brexit zu Kompromissen bereit wäre. Zu einem Rücktritt bei einer möglichen Wahlniederlage will May sich bisher nicht äußern.

May ist in einer schwierigen Situation. "Selbst wenn sie sich einigermaßen achtbar schlägt, ist es gut möglich, dass sie ein ähnliches Ergebnis holt wie 2015. Dann werden sich viele Briten fragen, wofür diese Wahl jetzt gut gewesen ist", sagt Dannemann. Gut möglich, dass Theresa May selbst inzwischen nicht mehr so sicher ist, ob das so eine gute Idee war mit den Neuwahlen. Vielleicht droht ihr ein ähnliches Schicksal wie David Cameron. Mays Vorgänger war im vergangenen Jahr nach der von ihm initiierten Brexit-Abstimmung zurückgetreten.

Quelle: ntv.de

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