Politik

Türkei-Talk bei Anne Will Nach dem Putsch ist vor dem Putsch

Harald Kujat, Seyran Ates, Norbert Röttgen, Anne Will, Cem Özdemir und Fatih Zingal (v.l.)

Harald Kujat, Seyran Ates, Norbert Röttgen, Anne Will, Cem Özdemir und Fatih Zingal (v.l.)

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Nutzt der türkische Präsident den Putschversuch, um ein totalitäres Regime zu installieren? Oder zeigt die Türkei sich gerade als funktionierender Rechtsstaat? Wie man diese Frage beantwortet, hängt davon ab, wie man zu Erdogan steht.

Es muss mindestens zwei türkische Präsidenten geben. Einen, der in der Nacht von Freitag auf Samstag mit Hilfe seiner Landsleute die Demokratie gerettet hat. Und einen, der den vereitelten Putsch zum Anlass nimmt, ein autokratisches, vielleicht gar diktatorisches Regime einzuführen.

Fünf Gäste sitzen am Sonntagabend in den Sesseln bei Anne Will, man kann sie alle einer dieser Versionen von Recep Tayyip Erdogan zuordnen. Fatih Zingal hat, wieder einmal, die Rolle des Erdogan-Sprechers. Er ist der stellvertretende Vorsitzende der "Union Europäisch-Türkischer Demokraten", einer Organisation, die als Lobbyverband der AKP in Deutschland gilt - und die diesen Ruf, wenn man Zingal zuhört, vermutlich nicht ganz zu Unrecht hat. Um die Verhaftungen zu erklären, zitiert er Erdogan, der gesagt habe, nach dem Putschversuch müssten "Vorsichtsmaßnahmen" getroffen werden.

Alle anderen stimmen darin überein, dass sie Erdogan nicht für einen Demokraten halten. "Jetzt folgt auf den versuchten Militärputsch, den man scharf verurteilen muss, ein ziviler Putsch", sagt Grünen-Chef Cem Özdemir. "Und der zivile Putsch ist nicht besser als der Militärputsch." Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, betont, es sei völlig klar, "dass der Putsch illegal war und ein Verbrechen darstellt". Was allerdings jetzt in der Türkei passiere, "ist die Reaktion eines totalitären Regimes". Erdogan wolle "autokratischer Herrscher werden", sagt auch der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, "dafür hat er einen rationalen Plan".

Beispielhaft lassen sich die zwei Sichtweisen auf Erdogan an einem Zitat vom Samstagmorgen zeigen. "Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk Gottes", sagte Erdogan, nachdem er in Istanbul gelandet war. "Dieser Putsch gibt uns die Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern."

"Die Listen müssen fertig gewesen sein"

Dass der Putsch nur eine Inszenierung war, glaubt Röttgen zwar nicht. Er wirft Erdogan aber vor, ihn "in einer rechtsstaatswidrigen, antidemokratischen Weise für die eigenen machtpolitischen Ziele" auszunutzen. Es sei Zynismus, "in einer solchen Situation von einem Geschenk Allahs zu sprechen". Schon am Samstag seien fast 3000 Richter (und Staatsanwälte) suspendiert worden. "Das heißt, die Namenslisten müssen in den Schubladen gelegen haben."

Zingal sieht das ganz anders. Er ist sicher, dass alle, die jetzt verhaftet oder suspendiert worden seien, ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen würden. In deutschen Ohren klinge das Erdogan-Zitat schrecklich, räumt er ein. "Aber was hat Herr Erdogan gesagt? Man muss das im Kontext betrachten. Er hat gesagt, es ist ein Geschenk Gottes, wenn man das wörtlich übersetzt, vor dem Hintergrund, dass man jetzt die Demaskierung gesehen hat."

Und damit sind wir bei den "Parallelstrukturen", die in der Türkei herrschen. Nur: Welche Parallelstrukturen sind es? Zingal ist, wie Erdogan und die AKP, überzeugt, dass die Gülen-Bewegung bereits "seit zwanzig bis dreißig Jahren" Parallelstrukturen errichte. Den Putschversuch sieht er, wie Erdogan und die AKP, als Beleg für die Existenz dieser Strukturen. Erdogan sei in Deutschland immer als Spinner abgetan worden, wenn er darüber gesprochen habe. "Jetzt sehen wir, die [Parallelstrukturen] gab es in der Tat."

"Die Menschen sind sich spinnefeind geworden"

Für die Gegenseite ist das kein Beweis, und natürlich ist es auch keiner. Klar ist, dass es einen Putsch gab. Ob die Bewegung des einst mit Erdogan verbündeten Predigers Gülen dahintersteckt, ist bislang nur Spekulation. "Wir haben ja gesehen, was die gemacht haben", sagt Zingal. "Es wurde das Parlament bombardiert". Anne Will wirft ein: "Aber nicht von den Richtern."

Die Debatte über die Gülen-Bewegung bringt keine tieferen Einsichten. Letztlich scheint keiner in der Runde wirklich zu wissen, wie einflussreich die Bewegung ist, ob sie überhaupt ein relevanter Faktor in der Türkei ist. Özdemir berichtet, wie er bewaffnete junge Männer mit Bärten und in Jeans im Südosten der Türkei gesehen habe, die als Sicherheitskräfte agierten und vor denen die regulären Polizisten und Soldaten Angst gehabt hätten. Er verdächtigt Erdogan, eine Parallelarmee aufzubauen. Dafür fordert dann wiederum Zingal Beweise ein.

Bleiben wir also bei den Fakten. Erstens: eine Beobachtung. Röttgen merkt an, Erdogan sei vom Putsch überrascht gewesen und habe trotzdem sofort gewusst, dass die Gülen-Bewegung dahinter stecke. Das passe nicht zusammen.

Zweitens: eine Zustandsbeschreibung. Die deutsch-türkische Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş, die Istanbul unmittelbar vor dem Putsch verlassen hatte, beschreibt die Türkei als extrem polarisierte Gesellschaft. "Menschen sind sich wirklich spinnefeind geworden: für Erdogan, gegen Erdogan. Sprichst du das Wort 'kurdisch' aus, bist du PKK." Özdemir sieht den Präsidenten als Urheber dieser Spaltung. Erdogan mache jeden Kritiker wahlweise zum "PKKler" oder zum Gülen-Anhänger.

Er könne wegen der Armenien-Resolution des Bundestags ja leider nicht mehr in die Türkei reisen, sagt Özdemir, aber das sei ja "nicht wirklich wichtig". Viel schlimmer sei, dass Bundestagsabgeordnete nicht die deutschen Soldaten in Incirlik besuchen könnten. Er plädiert dafür, die Soldaten abzuziehen, wenn Erdogan solche Besuche nicht ermögliche. Röttgen lehnt das ab, da dies nicht Erdogan schade, sondern nur dem Kampf gegen die Terrormiliz IS. Bei diesem Thema hält Zingal sich auffallend zurück. Vielleicht fällt selbst ihm keine Rechtfertigung dafür ein, warum Erdogan den Parlamentariern aus einem anderen Nato-Staat nicht erlaubt, die eigenen Soldaten zu sehen.

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen