Politik

Interview zu E-Scooter-Chaos "Neue Verkehrsmittel brauchen Platz"

E-Roller und Leihräder drängen immer mehr auf Gehwege und behindern Fußgänger, wie hier zu sehen am Potsdamer Platz in Berlin.

E-Roller und Leihräder drängen immer mehr auf Gehwege und behindern Fußgänger, wie hier zu sehen am Potsdamer Platz in Berlin.

(Foto: picture alliance / Global Travel Images)

Die Städte klagen, die Bürger schimpfen: Überall stehen und liegen die E-Scooter weiter herum, gefährden andere Verkehrsteilnehmer. Muss das sein? ntv.de hat eine Verkehrsforscherin zu dem Trend-Fahrzeug interviewt und gefragt, was die Städte tun können.

ntv.de: Was lässt sich aus wissenschaftlicher Perspektive heute bereits relativ sicher sagen über das neue Verkehrsmittel E-Scooter?

Laura Gebhardt ist Verkehrsforscherin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Dort interessiert sie sich besonders für Mikromobile, das heißt Kleinstfahrzeuge wie zum Beispiel die E-Scooter.

Laura Gebhardt ist Verkehrsforscherin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Dort interessiert sie sich besonders für Mikromobile, das heißt Kleinstfahrzeuge wie zum Beispiel die E-Scooter.

(Foto: FvF Productions)

Laura Gebhardt: Um wissenschaftlich fundierte Aussagen zu E-Scootern treffen zu können, brauchen wir noch eine weitaus größere Datengrundlage. Bisher können wir nur teilweise auf Daten der Anbieter solcher Mikromobile und auf existierende wissenschaftliche Studien zurückgreifen. So wissen wir zum Beispiel, dass die durchschnittliche Weglänge rund zwei Kilometer beträgt. Vorwiegend werden E-Scooter abends und an Samstagen genutzt, also eher für Freizeitzwecke. Seit der Corona-Pandemie hat sich die Weglänge um 25 bis 30 Prozent verlängert.

Im Straßenverkehrsrecht wird der E-Scooter in gewisser Weise mit dem Fahrrad gleichgestellt: Man darf ihn auf dem Gehweg parken, aber dort nicht fahren. Ist der E-Scooter also so etwas wie die Weiterentwicklung des Fahrrads?

Nein, es sind auch andere Nutzergruppen und Wegezwecke als beim Fahrrad. E-Scooter ersetzen durchaus Fahrradfahrten. Aber jemand, der ein privates Rad besitzt und dieses gerne und häufig fährt, wird sein Verhalten aufgrund des E-Scooter-Angebotes nicht oder nicht groß verändern. Auch hier fehlen uns aber schlicht fundierte empirische Daten. Das kann ich nur mutmaßen, beziehungsweise aufgrund von einzelnen Studien sagen.

Wie nachhaltig ist der E-Scooter Ihrer Meinung? Ist er tatsächlich die "echte zusätzliche Alternative zum Auto", die CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer bei der Einführung 2019 versprach?

Sicher können nicht sämtliche Autofahrten durch einen E-Scooter ersetzt werden. Denken wir zum Beispiel an Einkaufsfahrten, bei denen viel transportiert werden muss. Aber aus Datenanalyen wissen wir, dass täglich fast 30 Millionen Pkw-Fahrten in Deutschland kürzer als zwei Kilometer sind. Weitere knapp 30 Millionen Fahrten sind kürzer als vier Kilometer. Am DLR-Institut für Verkehrsforschung haben wir eine Potenzialanalyse durchgeführt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass bei zehn bis fünfzehn Prozent aller Pkw-Wege unter vier Kilometern der E-Scooter ein Ersatz sein könnte. Bei dieser Berechnung sind Ausschlussfaktoren wie schlechtes Wetter, die Mitnahme von Gepäck und Mitfahrenden schon berücksichtigt. Das ist jedoch ein theoretisches Potential. Perspektivisch gilt es zu untersuchen, ob und wie dieses Potential gehoben werden kann.

Immer wieder hört man von Unfällen, an denen E-Scooter-Fahrer beteiligt sind. Ist der E-Scooter eigentlich sicher?

Wirft man einen Blick in die Unfallstatistik, sieht man, dass E-Scooter im Vergleich zum Fahrrad derzeit ein mindestens doppelt so hohes Unfallrisiko haben. Aufgrund der spärlichen Datengrundlage stellt dies nur einen groben Näherungswert dar. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass eine Vielzahl leichterer Unfälle mit E-Scootern nicht in der Unfallstatistik enthalten ist, da diese nicht gemeldet wurden. Vor allem die Frage der Unfallursachen und welche weiteren Einflussfaktoren zu einem so viel höheren Unfallrisiko führen als beispielsweise beim Fahrrad, müssen besser erforscht werden, um zukünftig das Unfallrisiko minimieren zu können. Bei der unfallfreien Nutzung eines Fahrzeugs sind Gewohnheit und Vertrautheit sicherlich auch ein entscheidender Aspekt. Mit dem Fahrrad sind die meisten Menschen aufgewachsen und geübter und routinierter im Umgang damit. Es kann also durchaus davon ausgegangen werden, dass die Fahrer:innen der elektrischen Roller über die Zeit immer vertrauter mit diesen werden und die Nutzung somit künftig sicherer werden könnte. Ergänzend ließe sich die Sicherheit durch spezifische Maßnahmen wie zum Beispiel die Einführung einer Helmpflicht erhöhen.

War es aus Verkehrsforscherinnensicht eine kluge Entscheidung, ein neues Verkehrsmittel zu erlauben, ohne dessen Gebrauch gleich bis in das Detail zu regulieren?

Wäre die Einführung in allen Städten von Anfang an sehr reguliert abgelaufen, würde es gegebenenfalls weniger ungelöste Fragen und Konflikte geben. Die Stadt Braunschweig zum Beispiel hat sehr klare Spielregeln vor der Einführung entwickelt. Wobei man dazusagen muss, dass die E-Scooter hier erst sehr viel später auf der Straße standen als anderswo. Mehr Regulierungen hätten E-Scooter für manche Nutzergruppen womöglich weniger attraktiv gemacht. Auch glaube ich, dass weniger Schwung in das Thema gekommen wäre. Es war ja schon beachtlich, wie schnell diese Einführung, gefühlt über Nacht, in einigen deutschen Städten vollzogen wurde.

Was können Städte tun, damit nicht überall E-Scooter herumstehen oder -liegen?

Es geht darum, den neuen Verkehrsmitteln Platz in der Stadt einzuräumen. Vergleichen wir die neuen Verkehrsmittel mit einem neuen Mitbewohner in einer Wohnung: Er kann ach so passend und umgänglich sein, - wenn ich ihm kein Zimmer freiräume, kein Regal, wo er seine Sachen reinlegen kann, dann stört er nur, sitzt in den Räumen der anderen, die ja schon besetzt sind. So ist es auch mit den neuen Verkehrsmitteln. Wir wünschen sie uns, aber wir räumen ihnen keinen Stadt- und Straßenraum ein. Und so ist es nicht überraschend, dass sie stören. Geh-, Radweg oder Straße: Wo sollen E-Scooter, E-Bikes und Co. unterwegs sein? Aus Paris, die etwas früher als wir in Deutschland E-Scooter eingeführt haben, wissen wir, dass nach der Einführung von Regulierungen, also zum Beispiel dem Einrichten von Parkzonen für die Mikromobile, es zu weniger Konflikten kam und die Bewertung der E-Scooter in der Bevölkerung danach besser war. Davon könnten wir in Deutschland uns natürlich etwas abschauen und durch Spielregeln den Ärger minimieren.

Halten Sie es für plausibel, dass der Markt dieses Problem von allein löst? Denn laut einschlägiger Literatur gibt es diese drei Optionen: gesetzgeberisch intervenieren, freiwillige Selbstverpflichtungen mit den Sharing-Betreibern eingehen - oder eben gar nichts tun.

Ich denke, eine Kombination aus erstem und zweitem wäre sinnvoll. Wenn der Markt es selbst reguliert, dann verschwinden die neuen Mikromobile gegebenenfalls wieder, weil es zu viel Ärger, Konflikte und schlechte Presse gibt. Wenn wir neue Mobilitätslösungen fördern möchten, gilt es, ihnen auch Stadt- und Straßenraum zu geben, wodurch sich Konflikte reduzieren könnten. Auch braucht es einen Gewöhnungseffekt, den wir jetzt noch nicht abschließend bewerten können.

Liegt die Wurzel allen Übels eventuell im Freefloating-Modell? Müsste man dieses verbieten zugunsten ausschließlich stationsbasierter Modelle, bei denen die Geldabbuchung erst stoppt, wenn das Gerät ordnungsgemäß verstaut ist?

Stationsbasierte Modelle könnten die Anzahl an herumliegenden E-Scootern sicher minimieren. Allerdings nimmt man dem System dann seine Flexibilität. Und das ist mit ein Hauptgrund, weswegen E-Scooter attraktiv sind und genutzt werden. Häufig ist die erste oder letzte Meile zum ÖPNV eine Hürde, diesen zu nutzen. Zubringerwege von einem Kilometer sind vielen Menschen bereits zu weit, um zu Fuß zu gehen. Hier könnte zum Beispiel ein E-Scooter, den ich mir ausleihe und an der S-Bahn wieder abstelle, Abhilfe schaffen. Gegebenenfalls wäre eine Kombination aus Freefloating und stationsbasiertem Verleihen sinnvoll. Wenn es auf die stationsbasierte Variante hinauslaufen soll, dann müssten die Stationen flächendeckend vorhanden sein.

Mit Laura Gebhardt sprach Michael Stahl

Quelle: ntv.de

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