Profiler über Klette-Festnahme "Irgendwann wird man müde, mit falscher Identität zu leben"
28.02.2024, 21:00 Uhr Artikel anhören
Handout des Bundeskriminalamtes mit Alterssimulationen von Burkhard Garweg, Ernst-Volker Wilhelm Staub und Daniela Klette (v.l.).
(Foto: picture alliance / dpa)
Häufig wird angenommen, dass untergetauchte Menschen keinesfalls gefasst werden wollen, sagt der Fallanalytiker Axel Petermann im Interview mit ntv.de. So sei das aber nicht. "Ich habe Täter kennengelernt, die nach einem Tötungsdelikt über einen längeren Zeitraum alles dafür getan haben, nicht identifiziert zu werden. Einige haben sich dann trotzdem selbst gestellt, weil sie mit dem inneren Druck irgendwann nicht mehr umgehen konnten." Andere seien erleichtert gewesen, als sie gefasst wurden - so war es offenbar auch bei der ehemaligen RAF-Terroristin Daniela Klette.
ntv.de: Was ist das größte Problem, wenn man über Jahrzehnte mit falscher Identität lebt: die fehlende Sozialversicherung oder die Gefahr, dass ein Nachbar mal über ein Fahndungsfoto stolpert?
Axel Petermann: Die fehlende Sozialversicherung ist es nicht, denke ich. Wenn wir Daniela Klette als Beispiel nehmen: Sie hat mit Raubüberfällen dafür gesorgt, dass sie ein hohes Einkommen hatte. Dadurch haben sie und ihre Mittäter zwar ein großes Risiko auf sich genommen, andererseits aber auch dafür gesorgt, dass sie über einen längeren Zeitraum nicht darauf angewiesen waren, durch kleinere Straftaten immer wieder auf sich aufmerksam zu machen. Offenbar hat sie auch Geld durch privaten Nachhilfeunterricht eingenommen, und das wird ja in bar bezahlt.

Axel Petermann war lange bei der Kriminalpolizei in Bremen, unter anderem als stellvertretender Leiter des Kommissariats für Gewaltverbrechen. Er ist Fallanalytiker und Autor.
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Also die Gefahr, erkannt zu werden?
Das ist das größte Risiko. Das Alter verändert zwar das Aussehen, das Gesicht altert, aber nicht so grundlegend, dass sich die individuellen Gesichtsmerkmale verändern würden.
Wenn ich an die Fotos von Daniela Klette denke: Ihre oberen Schneidezähne sind doch schon recht markant. Wer sich bewusst mit ihrem Aussehen auseinandersetzt, hätte so einen ersten Hinweis finden können. Gleichzeitig dürften Personen, die untergetaucht sind, sich immer sicherer fühlen, je mehr Zeit vergeht. Denn offensichtlich klappt die eigene Art der Geheimhaltung ja. Das kann zur Überheblichkeit und zu der Überzeugung führen, dass die Fahnder einfach unfähig sind, einen zu finden.
Berichten zufolge soll Daniela Klette erleichtert gewirkt haben, als die Polizei sie festnahm.
Das ist nicht untypisch. Häufig wird angenommen, dass untergetauchte Menschen keinesfalls gefasst werden wollen. Aber das ist so nicht richtig. Ich habe Täter kennengelernt, die nach einem Tötungsdelikt über einen längeren Zeitraum alles dafür getan haben, nicht identifiziert zu werden. Einige haben sich dann trotzdem selbst gestellt, weil sie mit dem inneren Druck irgendwann nicht mehr umgehen konnten. Andere waren erleichtert, als sie gefasst wurden - die ständige Furcht, wer denn beim Klingeln hinter der Haustür steht, war vorbei. Nicht die Person sein zu dürfen, sein zu können, die man ist, das ist mit großem Stress verbunden.
Mit Blick auf Daniela Klette kann ich mir beides vorstellen: dass sie geglaubt hat, nach so langer Zeit nicht mehr gefunden werden zu können. Oder dass sie eine Einstellung entwickelt hat, ihre Enttarnung zwar nicht offensiv zu provozieren, zugleich aber das Risiko, identifiziert zu werden, hinzunehmen. Das würde erklären, warum eine der meistgesuchten Frauen Deutschlands sich einen Facebook-Account anlegt und Fotos von sich postet. Und der Tanzgruppe eines brasilianischen Kulturvereins beitritt, wo ebenfalls eine gewisse Öffentlichkeit herrscht.
Könnte dahinter eine unbewusste Haltung stehen, weil man keine Lust mehr auf dieses Leben mit der falschen Identität hat?
Ein Post bei Facebook ist die bewusste Entscheidung, etwas von sich in die Öffentlichkeit zu geben. Man weiß ja, dass so etwas auch von Ermittlungsbehörden gesehen werden kann. Und dass nach ihr gefahndet wird, hat Daniela Klette gewusst. Deshalb halte ich es eher für möglich, dass sie bewusst entschieden hat, das Risiko einzugehen. Denn irgendwann wird man müde, mit falscher Identität zu leben und nichts aus der Zeit davor, als man noch nicht gesucht wurde, preisgeben zu dürfen. Man hat einen falschen Namen, aber keine Familie, die zu diesem Namen gehört. Zudem muss man ständig neue Legenden erfinden. Das ist durchaus anspruchsvoll, sich nicht nur schlüssige Geschichten zu überlegen, sondern sie auch so zu verinnerlichen, dass man immer die richtigen Antworten parat hat - auf Fragen nach der Familie, nach Freunden: Warum kommen die nicht? Warum besuchst du die nie? Das erfordert viel Kraft.
Sie haben lange als Profiler gearbeitet. Ist Profiling auch eine Methode, um untergetauchte Terroristen zu finden? Oder sind Terroristen eine zu spezifische Täterkategorie?
Normalerweise ist es die Hauptaufgabe von Fallanalytikern, das Verhalten von Tätern bei ihren Verbrechen aus der Spurenlage am Tatort zu interpretieren, um sich dem Motiv zu nähern und so die Frage zu beantworten, welches Profil der Täter hat. Aber natürlich kann es für jede Fahndung sinnvoll sein, ein psychologisches Profil der gesuchten Person zu erstellen: Was ist das für eine Persönlichkeit, welche Neigungen hat sie, welche Vorlieben, welche Schwächen? Wie würde diese Person sich verhalten, wenn ich durch verstärkte Fahndung Stress aufbaue? Wie reagiert sie dann? Wen würde sie vielleicht kontaktieren? Aber das setzt voraus, dass man diesen Menschen gut kennt und quasi alles über seine Kindheit, seine Jugend, seine Familie, Freunde und Bekannten weiß. Die Analogie ist nicht ganz passend, aber wir erleben es bei Opfern, die geschützt werden sollten, immer wieder, dass diese ihre neue Identität gefährden, weil sie es nicht aushalten, keinen Kontakt zu Menschen aus ihrer Vergangenheit aufzunehmen.
Daniela Klette soll knapp zwanzig Jahre in der Kreuzberger Wohnung gelebt haben, in der sie festgenommen wurde. Wäre es für eine Untergetauchte sinnvoller, alle paar Jahre die Wohnung zu wechseln?
Zunächst einmal ist die Wahl des Hochhauses sinnvoll. Man könnte denken, dass dort viele Menschen wohnen und damit auch viele, die einen erkennen können. Aber Hochhäuser sind auch sehr anonym. Vielleicht gibt es da eine hohe Fluktuation, und vermutlich kennen die Nachbarn einander dort nicht so gut wie es zum Beispiel in einer Reihenhaussiedlung der Fall wäre, wo die Menschen den Nachbarn in den Garten gucken. Klar, ein Wechsel könnte Vorteile bringen, aber man betritt dann immer wieder ein neues Umfeld. Da ist es vermutlich sinnvoller, als Claudia Ivone in einem Hochhaus zu leben, gelegentlich mit den Nachbarn zu sprechen, zu Weihnachten Plätzchen zu verteilen und ansonsten unauffällig zu bleiben. Das Beste ist immer, so wenig Kontakte wie möglich zu haben, um dem Zufall so wenig Chancen wie möglich zu geben.
Mit Axel Petermann sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de