Politik

Extremismusexperte im Interview "Rechtsextreme gibt es hier seit Jahrzehnten"

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Der Täter hatte in einer Shisha-Bar und vor einem Kiosk in der Hanauer Innenstadt neun Menschen erschossen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Nach Hanau stellt sich die Frage: Können die Sicherheitsbehörden rechtsextremer Gewalt überhaupt zuvorkommen? Sie stehen vor großen Herausforderungen, sagt Extremismusforscher Reiner Becker. Rechtsextreme tummelten sich heute "in den unterschiedlichsten Szenen".

ntv.de: Wie groß ist das Problem mit Rechtsextremismus in Deutschland?

Reiner Becker: Wir haben seit Längerem ein massives Problem mit Rechtsextremismus in unterschiedlichen Spielarten. Wir erleben eine neue Qualität von Hass, seitdem sich die Gesellschaft 2015 stark polarisiert hat. Wir finden erstarkten Rechtspopulismus vor, bei dem die Übergänge zum Rechtsextremismus teilweise fließend sind. Der rechte Flügel der AfD und die Jugendorganisation wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Einzeltat, sofern es eine ist, gehört als schrecklicher Baustein in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang.

Seit wann besteht das Problem?

Das, was wir jetzt erleben, ist ja nicht neu. Wir haben beispielsweise eine NSU-Mordserie in den 2000er Jahren bundesweit zehn Jahre überhaupt nicht wahrgenommen. Außerdem ist Rechtsextremismus ein ständiger Begleiter der Bundesrepublik seit ihrer Gründung. Die ehemaligen Nazis sind ja nicht einfach verschwunden. Rechtsextreme Parteien und Organisationen gibt es seit dem zweiten Weltkrieg durchgängig in unserem Land. Außerdem gibt es eine Anfälligkeit für eine rechtsextreme Ideologie. Wir wissen aus Studien: Aussagen zu Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus finden bis heute immer wieder hohe Zustimmung bei den Deutschen.

Ist die Tat in Hanau als rechtsextremer Terror zu werten oder eher als Einzeltat eines psychisch Kranken?

Wenn man sich mit dem sogenannten Manifest des mutmaßlichen Täters beschäftigt, findet man viele Versatzstücke eines rechtsextremen Weltbildes wieder. Es enthält die Verherrlichung des Germanentums und eine klare Gewalt-konnotierte Ablehnung von Bevölkerungsgruppen, insbesondere Muslimen. Wir finden aber auch krude Verschwörungstheorien darin und das ist nichts Neues. Die gibt es im rechten Spektrum in unterschiedlicher Art. Alles zusammen hat er so sein Weltbild kreiert, aus dem heraus die schreckliche Tat erfolgt ist. Jetzt wie die AfD schnell zu sagen, wir tragen durch unsere verbalen Entgleisungen auch innerhalb des rechten Flügels keine Verantwortung für das gesamtgesellschaftliche Klima, halte ich für falsch.

Und die These von der psychischen Krankheit des Täters?

Es kann natürlich herauskommen, dass dieser Mann auch psychisch krank war. Aber mit Blick auf die Taten in Halle, München, den USA oder Neuseeland ist es wichtig, auf Folgendes aufmerksam zu machen: Diese Menschen sind in der Regel keine isolierten Einzelgänger, sie sind in ihrer Netzcommunity unterwegs und empfinden dort breite Zustimmung für ihre Gedanken und Taten. Teilweise wurden ihre Taten auch gefilmt und ins Netz gestellt. Das ist nicht neu und vor allem nichts, was man als ausschließlich krank abtun und damit verharmlosen darf.

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Dr. Reiner Becker ist Leiter des Demokratiezentrums Hessen an der Universität Marburg.

Warum nehmen wir bei islamistischen Gewalttaten die religiöse Zugehörigkeit des Täters in den Fokus und verweisen bei rechten Tätern schnell auf deren psychische Krankheit?

Wir wollen uns das Ausmaß rechter Gesinnung und Gewalt in Deutschland in seiner Massivität immer noch nicht eingestehen. Die Gesellschaft driftet auseinander. Das eingespielte bundesrepublikanische System der letzten 70 Jahre und die Art, wie sich Koalitionen finden, rutscht weg. In den Parlamenten werden Weltbilder vertreten, von denen man lange nicht für möglich hielt, dass sie wieder salonfähig sein könnten. Wir müssen uns klarmachen: Die Demokratie und das System, in dem wir groß geworden sind, sind nicht selbstverständlich.

Hätten die staatlichen Behörden den Anschlag im Vorhinein kommen sehen müssen?

Nicht unbedingt. Man kann feststellen, dass sich die rechtsextreme Szene in Deutschland verändert hat. Es gibt nicht mehr nur die klar sichtbaren kameradschaftlichen Skinhead-Gruppen, die in einem Landkreis oder überregional aktiv und damit sichtbar für die Behörden werden. Solche Organisationsformen brauchen Rechte anscheinend nicht mehr. Sie vernetzen sich anders. Die neuen Medien sind dabei natürlich hilfreich, denn die Rechtsextremen sind bei ihrer Vernetzung nicht mehr unbedingt physisch an einen bestimmten Ort gebunden. Zudem tummeln sich die Rechten in vielen Mischszenen. Es gibt rechte Kreise beispielsweise in der Kampfsportszene oder in der Naturschutzbewegung, um nur zwei zu nennen. Die Lage ist wesentlich diffuser als früher. Zudem erleben wir auch in der breiten Öffentlichkeit eine Diskursverschiebung nach rechts. Fremdenfeindlichkeit findet jeden Tag in den sozialen Netzwerken statt und die Hemmschwelle, sie zu äußern, ist seit 2015 stark gesunken. Auch in vielen Landesparlamenten werden rassistische Aussagen auf politischer Ebene getroffen. Ich denke –  unter Vorbehalt der Kenntnislage – nein, sie hätten ihn nicht identifizieren können.

Wie kann man gegen Rechtsextremismus vorgehen?

Wir müssen an vielen Stellschrauben drehen. Es fängt bei den politischen Verantwortlichen in Hessen an: Sie müssen die Tat nun klar als rassistische Tat benennen. Sie müssen ihre tiefe Solidarität zu den Angehörigen zum Ausdruck bringen. Bestimmte Gruppen wie Menschen muslimischer Herkunft oder muslimischen Glaubens erleben alltägliche rassistische kleine Spitzen und Anfeindungen in Deutschland. Das müssen wir wahrnehmen und als Gesellschaft jeden Tag daran arbeiten. In dem konkreten Fall von Hanau scheint es um einen Sportschützen zu gehen. Auch hier müssen wir als Gesellschaft achtsam sein. Wir sollten unter keinen Umständen wegsehen, wenn wir in unserem Alltag auf Menschen mit rechtem Gedankengut treffen.

Gibt es auch Maßnahmen, die wir auf institutioneller Ebene ergreifen können?  

Ja, es geht ganz klar auch darum, Menschen präventiv durch Bildungsangebote aufzuklären und Aussteiger mithilfe von Beratungsangeboten zu begleiten. In Hessen haben wir seit einigen Wochen jetzt eine Meldestelle für Hass-Sprache im Netz online. Mit dem Beratungsnetzwerk Hessen gibt es zudem eine Anlaufstelle für Opfer von Alltagsrassismus. Dort bauen wir außerdem gerade ein ganz konkretes Beratungsangebot für Kommunalpolitiker auf. Seit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist Angst vor politischem Engagement ein Thema geworden. Rechte bedrohen und beleidigen zunehmend auch Menschen, die sich in der Kommune einbringen.

Mit Reiner Becker sprach Steffi Waldschmidt

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