Mehr Führung? Weniger EU? So denken die Deutschen über Europa
29.11.2016, 12:01 Uhr
Kanzlerin Merkel setzt sich für ein starkes, vereinigtes Europa ein - auch die Mehrheit der Deutschen wünscht sich das.
(Foto: REUTERS)
Finanzkrise, Brexit, Populisten auf dem Vormarsch: Die EU durchlebt schwere Zeiten. Viele Menschen in Europa stellen den Staatenbund infrage. Die Ansichten der Deutschen sind da durchaus etwas überraschend.
Was bleibt von Europa? In jüngster Vergangenheit nicht allzu viel Gutes, kann man meinen. Zuletzt stritten die Staaten über eine gemeinsame Lösung der Flüchtlingskrise. In der Ukraine, in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU, herrscht seit mehr als zwei Jahren Krieg. Die Briten stimmten im Juni für ihren Austritt aus der Europäischen Union. Auch in vielen anderen Ländern gewinnen Europa-Gegner an Zulauf. Die Bundesrepublik hat seit jeher nicht nur geografisch eine besonders zentrale Stellung auf dem Kontinent. Wie denken die Deutschen über Europa? Mit dieser Frage hat sich das Umfrageinstitut TNS Infratest im Auftrag der Körber-Stiftung auch in diesem Jahr wieder beschäftigt. Zwischen Anfang und Mitte Oktober wurden dafür deutschlandweit 1001 Menschen befragt. Das sind die Ergebnisse der Studie:
Auch die Deutschen hadern mit Europa

Oberste Repräsentanten der EU: Donald Tusk ist Präsident des Europäischen Rates, Martin Schulz ist Präsident des EU-Parlamentes und Jean-Claude Juncker Chef der EU-Kommission. (v.l.)
(Foto: picture alliance / dpa)
Europaskepsis gibt es im Jahr 2016 nicht nur in Großbritannien, den Niederlanden, Polen oder Ungarn: Auch die Menschen in Deutschen haben ihre Zweifel – zum Beispiel, was den Umgang der Europäischen Union mit ihren politischen Herausforderungen betrifft. Nur 35 Prozent der Deutschen sehen die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf dem richtigen Weg, 62 Prozent nicht. Besonders groß ist etwa die Unzufriedenheit über die Unterstützung der anderen EU-Staaten in der Flüchtlingskrise. 73 Prozent sind der Meinung, Deutschland sei allein gelassen worden.
Kritisch ist auch die Einschätzung darüber, inwiefern das deutsche Engagement in Europa ausreichend anerkannt werde. 43 Prozent finden ja, 54 nicht. Wenn es darum geht, auf welchen Gebieten sich die EU noch verbessern kann, ist die Liste lang. Mehr Transparenz und Bürgernähe wünschen sich 96 Prozent der Deutschen, eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten 95, eine enger abgestimmte Wirtschaftspolitik 87 und eine stärkere Rolle des EU-Parlaments 61 Prozent. Eine Mitgliedschaft der Türkei steht derweil nicht hoch im Kurs, dies wollen nur 15 Prozent.
Die Deutschen sind trotzdem Europa-Fans

Erfreut sich in Deutschland regen Zuspruchs: die europakritische AfD um Parteichefin Petry und Vize Gauland.
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Bei aller Skepsis: Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist nach wie vor von Europa überzeugt. 39 Prozent sehen eher Vorteile in der EU-Mitgliedschaft, 12 Prozent eher Nachteile. 48 Prozent sehen sowohl Vor- als auch Nachteile. Bei verschiedenen Gruppen gehen die Werte teilweise weit auseinander. So sehen Männer, Menschen unter 30 (jeweils 48 Prozent) und Abiturienten (57) weit mehr Vorzüge in der EU als Frauen (32 Prozent), Personen über 60 (36) und mit Hauptschulabschluss (30). Dass die meisten Deutschen Europa trotz aller Krisen doch relativ viel zutrauen, zeigen andere Zahlen. 82 Prozent wünschen sich eine größere Rolle der EU in der Welt. Nur 25 Prozent finden es gut, dass europakritische Bewegungen an Einfluss gewinnen. Nur 25 Prozent sorgen sich darum, aufgrund des Zusammenwachsens von Europa die eigene nationale Identität zu verlieren. Nur 31 Prozent wünschen sich eine geringere Bedeutung der EU und mehr Einfluss der Nationalstaaten.
Für viele Deutsche ist Europa das maßgebliche Feld der deutschen Politik. Aus Sicht von 78 Prozent der Menschen kann die Bundesrepublik ihre internationalen Interessen nur im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik durchsetzen. Nur 21 Prozent sehen das nicht so. Die vier Staaten, mit denen sich die Deutschen eine engere Zusammenarbeit wünschen, sind Frankreich (80 Prozent), Niederlande (71), Italien (71) und Polen (67) – allesamt europäische Nachbarn. Die USA (58) und die Türkei (32) kommen auf wesentlich schlechtere Zustimmungswerte.
Ebenso deutlich bekennen sich die meisten Deutschen zu den Errungenschaften Europas. Der Forderung von AfD, CSU und Teilen der CDU in der Flüchtlingskrise, die deutschen Grenzen zu schließen, schließen sich lediglich 21 Prozent der Deutschen an, 77 Prozent sind dagegen. Umso größer ist die Mehrheit derer, die der EU positive Eigenschaften zuschreiben. Sie ist eine Wertegemeinschaft, finden 81 Prozent, ein Friedensprojekt (79), "schützt unsere Freiheit" (75), lässt die Bevölkerungen zusammenwachsen (73). Immerhin 67 Prozent sind der Ansicht, dass die EU auf gegenseitiger Solidarität basiert – etwas, das ihr von Gegnern gern abgesprochen wird.
Es darf gern etwas mehr Führung sein
Mehr oder weniger Führung durch Deutschland? Das ist ein häufiges Streitthema zwischen deutschen Außenpolitikern. 59 Prozent der Befragten wünschen sich, dass die Bundesrepublik ihre Führungsrolle in der EU ausbauen soll, 40 Prozent sind dagegen. Die Studie der Körber-Stiftung zeigt außerdem: Die Außenpolitik erfreut sich in der Bevölkerung steigender Beliebtheit. 22 Prozent haben ein sehr starkes Interesse (2015: 18 Prozent). 52 Prozent haben ein starkes Interesse (2015: 49 Prozent). Vor allem bei jungen Menschen ist ein starker Anstieg zu beobachten. Bei den unter 30-Jährigen haben 73 Prozent ein starkes oder sehr starkes Interesse an Außenpolitik – 15 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr.
Die deutsche Führungsrolle sehen jedoch offenbar viele Menschen auf die EU begrenzt. Das zeigen die Antworten auf die Frage, ob Deutschland künftig bei internationalen Krisen stärker engagieren oder sich weiterhin eher zurückhalten sollte. 41 Prozent sind für ein stärkeres Engagement, 53 Prozent für Zurückhaltung. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch auch hier ein gegenläufiger Trend: So waren 2014 noch 37 Prozent dafür, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen soll, 60 Prozent stimmten damals für eine passivere Rolle. Der Anteil derer, die sich auch weltpolitisch mehr Führung wünschen, steigt demnach.
Im Zweifel deutsch
Die Studie zeigt, dass die Deutschen ein überwiegend gutes Bild von Europa und der EU haben. Fragt man nach der Identität, fühlt sich die Mehrheit der Menschen jedoch nach wie vor eher dem Nationalstaat verbunden. 62 Prozent sehen sich eher als Deutsche, nur 27 Prozent als Europäer. 8 Prozent sehen sich als Europäer und Deutsche. Sowohl Menschen in Ost- und Westdeutschland als auch in kleinen und großen Städten sehen sich mehrheitlich als Deutsche. Spannend wäre, ob sich dieser Wert in den vergangenen Jahren verändert hat. Dies lässt sich jedoch nicht beantworten, da die Frage nach der Identität in früheren Studien nicht erhoben worden ist.
Quelle: ntv.de