Politik

"Missbrauch des Grundgesetzes" So laufen Vertrauensfrage und Neuwahlen ab

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Bis Ende März will Kanzler Scholz den Bundestag neu wählen lassen. Die Regeln dafür stehen in Grund- und Wahlgesetz. Die Vertrauensfrage ist aber eigentlich für etwas anderes gedacht.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, dem Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen, über die das Parlament am 15. Januar kommenden Jahres abstimmen soll. Ziel sei eine Neuwahl des Bundestages bis Ende März, machte Scholz deutlich. Den Weg und den Fahrplan dafür geben das Grundgesetz und das Bundeswahlgesetz vor.

Nach Artikel 68 der Verfassung kann der Bundeskanzler den Bundestag bitten, ihm das Vertrauen auszusprechen. Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen 48 Stunden liegen. Ursprünglich war die Regelung dafür gedacht, dass sich der Kanzler des Rückhalts im Parlament vergewissern kann. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um die einzige verfassungsmäßige Möglichkeit, unter einem amtierenden Kanzler Neuwahlen einzuleiten.

Denn wenn der Antrag nicht die Mehrheit aller Abgeordneten findet, kann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Vorschlag des Kanzlers den Bundestag auflösen. Der Präsident ist dazu zwar nicht verpflichtet. In der Geschichte der Bundesrepublik kam es allerdings in allen Fällen, in denen das Parlament die Vertrauensfrage negativ beantwortete, zu dessen Auflösung.

Schulferien könnten Neuwahlen ausbremsen

Für eine Entscheidung über die Parlamentsauflösung hat der Bundespräsident 21 Tage Zeit, heißt es in Artikel 68 weiter. Bei einer Parlamentsauflösung muss die Neuwahl binnen weiterer 60 Tage stattfinden, schreibt Artikel 39 des Grundgesetzes vor. Die Bundestagswahl müsste demnach spätestens Anfang April angesetzt werden. Spätestens 30 Tage danach tritt der neue Bundestag zusammen.

Die Wahl muss an einem Sonntag stattfinden, den der Bundespräsident festlegt, wie es in Paragraph 16 des Bundeswahlgesetzes heißt. Alternativ ist auch ein gesetzlicher Feiertag als Wahltag erlaubt. Der Präsident folgt bei seiner Entscheidung traditionell der Empfehlung der Bundesregierung, die sich ihrerseits mit den Bundesländern und dem Bundestag sowie mit dessen Fraktionen abstimmt.

Oft werden dabei bereits geplante andere Wahltermine berücksichtigt. Eine Rolle kann dabei der Wunsch spielen, Wahltermine zu bündeln, um den Aufwand zu verringern. Andererseits können Parteien versuchen, einen Wahltermin taktisch so zu legen, dass ihnen beispielsweise ein erwarteter Erfolg bei einer Wahl Schwung für eine danach angesetzte Wahl verleiht oder eine erwartete Niederlage erst am Ende der Reihe folgt.

In den ersten Monaten des kommenden Jahres wird ein Landesparlament gewählt: Die Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg soll am 2. März neu bestimmt werden. Allerdings wird an diesem Sonntag in anderen Regionen Karneval, Fastnacht beziehungsweise Fasching gefeiert. Zudem liegen von Ende Januar bis Anfang März fast durchgehend verschiedene Schulferien in mehreren Bundesländern. In solchen Zeiträumen werden Wahlen traditionell vermieden.

Regierungswechsel auch ohne Neuwahl möglich

In der Geschichte der Bundesrepublik haben bereits einige Kanzler und ihre Parteien diesen Weg zu Neuwahlen eingeschlagen - in der Erwartung, daraus gestärkt hervorzugehen. Nun allerdings müssten bisherigen Umfragen zufolge SPD und Grüne wie auch ihr ehemaliger Koalitionspartner FDP bei einer Bundestagswahl herbe Verluste befürchten.

Eine Selbstauflösung des Bundestags erlaubt die Verfassung ebenso wenig wie eine Auflösung allein durch den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes zogen damit 1949 die Konsequenz aus den instabilen Verhältnissen der Weimarer Republik (1918 bis 1933). Mit diesen und anderen Vorgaben sollte verhindert werden, dass häufige Neuwahlen, Regierungswechsel und Blockaden das Land unregierbar machen. Stattdessen sollten das vom Volk gewählte Parlament und die aus ihm hervorgegangene Regierung in die Pflicht genommen werden, sich bis zum Ende der vierjährigen Legislaturperiode zusammenzuraufen.

Einen Regierungswechsel ohne Neuwahl des Parlaments ermöglicht das Grundgesetz durch ein sogenanntes konstruktives Misstrauensvotum: Ein Kanzler mitsamt seiner Regierung kann nur gestürzt werden, indem der Bundestag mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler oder eine neue Kanzlerin wählt. Ohne ein solches konstruktives Vorgehen kann das Parlament der Regierung formal nicht das Misstrauen aussprechen. Der Bundespräsident allein kann den Kanzler nicht auswechseln. Auch damit wurde eine Lehre aus Pattsituationen in der Weimarer Republik gezogen, die der nationalsozialistischen Diktatur von Adolf Hitler den Weg geebnet hatten.

Schmidt, Schröder, Brandt und Kohl

In der bundesdeutschen Geschichte haben Kanzler insgesamt fünf Mal die Vertrauensfrage gestellt, also den "Antrag", ihnen "das Vertrauen auszusprechen", wie es in Artikel 68 des Grundgesetzes heißt. Doch nur in zwei Fällen hatten die Amtsinhaber die Absicht, sich den Rückhalt der Parlamentsmehrheit zu sichern, wie es ursprünglich gedacht war: 1982 ließ sich Helmut Schmidt in einer Koalitionskrise das Vertrauen aussprechen - was nicht verhinderte, dass seine sozialliberale Koalition noch im selben Jahr zerfiel und Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestags von Helmut Kohl abgelöst wurde.

2001 sicherte sich Gerhard Schröder die Zustimmung für den umstrittenen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, indem er diese Abstimmung mit der Vertrauensfrage verband. In den drei übrigen Fällen nutzten Kanzler die Vertrauensfrage als Schachzug, um Neuwahlen einzuleiten: Dass 1972 Willy Brandt, 1982 der gerade ins Amt gekommene Helmut Kohl und 2005 Gerhard Schröder Vertrauensabstimmungen verloren, war vorher abgesprochen. Alle drei Politiker handelten in der Hoffnung, bei Neuwahlen ihre Koalition zu stabilisieren.

Während Brandt und Kohl dies gelang, scheiterte Schröder: Die SPD verlor die Bundestagswahl und wurde Juniorpartner in einer Großen Koalition von Angela Merkel. Obwohl die jeweiligen Bundespräsidenten mitspielten, wurden die sogenannten "unechten Vertrauensfragen" als Missbrauch des Grundgesetzes kritisiert. Sie erhielten aber schließlich den Segen des Bundesverfassungsgerichts.

Quelle: ntv.de, chl/rts

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