Antisemitismus-Definitionen "Die Gefahr besteht, dass die Linke gewissen Leuten einen Freibrief gibt"
17.05.2025, 09:13 Uhr Artikel anhören
Der Linken-Parteitag fand am 9. und 10. Mai in Chemnitz statt.
(Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)
Beim Parteitag der Linken in Chemnitz gab es zum Ende des Treffens eine Entscheidung, die die Parteispitze eigentlich verhindern wollte: Nach nur fünfminütiger Debatte stimmten die Delegierten dafür, dass sich die Linke hinter die "Jerusalemer Erklärung" (pdf) stellt, eine Definition von Antisemitismus, die vielfach als Gegenstück zur Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) gesehen wird. Der Beschluss löste auch innerparteilich scharfe Kritik aus: "Wer Israel auslöschen und Juden vernichten oder vertreiben will, der ist Antisemit!", so Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow.
Im Interview mit ntv.de erklärt die Historikerin und Antisemitismus-Expertin Juliane Wetzel die Unterschiede zwischen beiden Definitionen. Beide würden missbraucht, sagt sie. Zudem werde die IHRA-Definition in Deutschland immer nur unvollständig zitiert. Kritik an Israel sei dann antisemitisch, "wenn sie mit antisemitischen Stereotypen aufgeladen ist", erläutert Wetzel.
ntv.de: Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass die Linke sich offiziell der Jerusalemer Erklärung (JDA) anschließt?
Juliane Wetzel: Aus dem linken Spektrum gibt es ja immer wieder heftige Kritik an der IHRA-Definition, insofern ist es wahrscheinlich nur folgerichtig, dass die Linke als Partei sich der JDA angeschlossen hat. Das Problem ist, dass die wenigsten verstanden haben: Die IHRA-Definition enthält im Original einen Passus, der Kritik an der israelischen Regierung ausdrücklich als zulässig und nicht antisemitisch sieht.

Juliane Wetzel ist Historikerin und Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Sie war Mitglied der deutschen Delegation bei der International Holocaust Remembrance Alliance und hat die Antisemitismus-Definition der IHRA miterarbeitet.
(Foto: Copyright KIgA e.V. - Foto Boris Bocheinski)
Sie meinen diesen Satz: "Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden."
Ja. Als die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag 2017 empfohlen haben, die IHRA-Definition zu nutzen, wurde genau dieser Passus nicht übernommen.
Warum nicht?
Das weiß ich nicht. Es gab immer mal Gerüchte, dass dies eine politische Entscheidung gewesen sei, aber ich kann dazu nichts sagen.
Warum braucht es überhaupt eine spezifische Definition von Antisemitismus?
Ein wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht, dass die IHRA-Definition nie als wissenschaftliche Definition gedacht war. Es ging darum, die praktische Arbeit zu unterstützen, vor allem im Bereich der Erinnerungs- und Bildungsarbeit zum Holocaust. Da gab es viele Anfragen an die International Holocaust Remembrance Alliance, sodass wir irgendwann die Notwendigkeit sahen, diese Definition als Angebot zu machen; ich war ja mehr als zwanzig Jahre Mitglied der deutschen Delegation bei der IHRA. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die Definition sehr weit zu fassen, weil klar war, dass es Länder geben würde, die ihr sonst nicht zustimmen würden. Die Definition sollte ein Orientierungspunkt sein, uns war klar, dass sie immer wieder auslegungsbedürftig sein würde. Wir haben damals, 2016, als die Definition verabschiedet wurde, einen Schwerpunkt auf die Frage gelegt, wo die Grenzen von legitimer Kritik an der israelischen Politik und Regierung liegen.
Denn Kritik an Israel ist nicht automatisch antisemitisch.
Natürlich nicht, auch wenn diese Vorstellung bis heute weitverbreitet ist.
Wo ist die Grenze zum Antisemitismus, wenn es um Kritik an Israel geht?
Ich war Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus, der 2017 einen Bericht für den Deutschen Bundestag veröffentlicht hat (pdf). Darin haben wir definiert, dass Kritik an Israel dann antisemitisch ist, wenn sie mit antisemitischen Stereotypen aufgeladen ist, wenn sie Vergleiche zum Nationalsozialismus herstellt, in denen sich die für den Antisemitismus typische Täter-Opfer-Umkehr spiegelt, oder wenn sie das Existenzrecht Israels infrage stellt.
Es gibt da aber auch Grauzonen - darauf haben wir in dem Bericht sehr deutlich hingewiesen. Es geht immer darum: Wer sagt was wann, in welchem Zusammenhang, mit welcher Absicht, mit welchem Ziel? Das muss jeweils im Kontext entschieden werden. Der Vorwurf Antisemitismus kommt in letzter Zeit sehr schnell. Gerade beim israelbezogenen Antisemitismus passiert es zu häufig, dass eine Aussage als antisemitisch gelabelt wird. Das ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil der Antisemitismusbegriff dadurch ausgehöhlt wird.
Die Jerusalemer Erklärung war eine Reaktion auf die IHRA-Definition.
Sie kam fünf Jahre nach der IHRA-Definition. Zu diesem Zeitpunkt hatten 800 Organisationen und viele Länder, darunter alle EU-Staaten, die IHRA-Definition übernommen. Das Seltsame war, dass sich die Jerusalemer Erklärung in vielerlei Hinsicht gar nicht von der IHRA-Definition unterscheidet. Sie ist in einigen Punkten spezifischer, etwa mit Blick auf die BDS-Bewegung.
Die Forderung nach Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel ist laut JDA "nicht per se antisemitisch". Wie sehen Sie das?
Es kommt immer auf den Kontext an. Allerdings muss man sagen, dass der Gründungscharakter von BDS antisemitisch war. Ich selbst halte einen Boykott gegenüber Israel für völlig unsinnig. Warum sollte man beispielsweise israelische Wissenschaftler boykottieren?
Linken-Chef Jan van Aken hat sich auf dem Parteitag in Chemnitz dagegen ausgesprochen, per Beschluss eine wissenschaftliche Debatte zu beenden, konnte sich mit dieser Position aber nicht durchsetzen. Gibt es eine solche wissenschaftliche Debatte?
Es gibt diese Debatte, aber dabei geht es nicht um die Frage, ob die JDA oder die IHRA-Definition die wissenschaftlich richtige ist. Die Jerusalemer Erklärung gibt sich zwar den Anschein, als sei sie im Gegensatz zur IHRA-Definition auf wissenschaftlicher Basis erarbeitet worden. Aber wissenschaftliche Definitionen sind sie beide nicht. Für die wissenschaftliche Arbeit würde ich eher die Definition nehmen, die Werner Bergmann und ich 2002/2003 im Rahmen einer Studie für die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit empfohlen haben. Das ist die von Helen Fein: Antisemitismus ist "ein dauerhafter latenter Komplex feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als einem Kollektiv. Diese Überzeugungen äußern sich beim Einzelnen als Vorurteil, in der Kultur als Mythen, Ideologie, Folklore und in der Bildsprache sowie in Form von individuellen oder kollektiven Handlungen - soziale oder gesetzliche Diskriminierung, politische Mobilisierung gegen Juden, und als kollektive oder staatliche Gewalt -, die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten."
Kann man sagen, dass die Jerusalemer Erklärung konkreter ist als die IHRA?
Jein. In einer Passage ist die IHRA-Definition sehr konkret: Sie sagt, dass antisemitische Taten sich auch gegen Nichtjuden richten können, wenn diese als jüdisch wahrgenommen werden. Wir haben das während der Pandemie erlebt, als beispielsweise Bill Gates als Jude deklariert wurde, obwohl er keiner ist. Eine solche Zuschreibung ist ganz zweifellos antisemitisch, denn es geht darum, einen reichen und als mächtig wahrgenommenen Mann zu diffamieren, der sich angeblich an Corona bereichert hat. Häufig werden auch Institutionen oder Personen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, als Juden wahrgenommen. Diesen Punkt macht die JDA nicht.
Beim Linken-Parteitag wurde es so dargestellt, als schlössen die Jerusalemer Erklärung und die IHRA einander aus. Ist es möglich, beide Definitionen zu unterstützen?
Einige Unterzeichner der Jerusalemer Erklärung stehen der IHRA-Definition sicherlich kritischer gegenüber als andere. Aber grundsätzlich schließen die IHRA-Definition und die Jerusalemer Erklärung einander nicht aus. Wolfgang Benz beispielsweise, der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, hat die Jerusalemer Erklärung unterzeichnet und hält die IHRA-Definition trotzdem für einen wichtigen Meilenstein.
Ist Antisemitismus mehr als eine besondere Form des Rassismus?
Ja, absolut. Antisemitismus kann rassistische Formen annehmen. So war es Ende des 19. Jahrhunderts, als der Begriff Antisemitismus erfunden wurde. Diese im engeren Sinne rassistischen Formen spielen beim Antisemitismus heute keine zentrale Rolle mehr, allenfalls in sektiererischen Gruppierungen des Rechtsextremismus. Aber auch Rechtsextreme bemühen sich um die Zustimmung der Mehrheitsgesellschaft - das kann man mit diesen rassistischen Formen nicht, allenfalls mit einem kulturell verbrämten Rassismus. Im Unterschied zum Rassismus geht es beim Antisemitismus immer darum, dass Jüdinnen und Juden angeblich mächtig sind. Eine weitere wichtige Komponente des Antisemitismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Verfälschung oder Leugnung des Holocaust - zum Beispiel die Aussage, die Israelis machten heute mit den Palästinensern das Gleiche, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben. Auch dieser Aspekt fehlt in der Jerusalemer Erklärung.
In der Jerusalemer Erklärung steht, es sei "nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen 'zwischen dem Fluss und dem Meer' volle Gleichberechtigung zugestehen". Ist das ein Freibrief für die Parole "From the River to the Sea"?
Das kann man so sehen, auch wenn die Verfasser der JDA hier sicherlich widersprechen würden. Zugleich denke ich, vielen, die diese Parole benutzen, ist nicht klar, was sie damit eigentlich sagen. Sie sagen damit, dass Israel und seine Bürger ausgelöscht werden sollen. In Deutschland wird diese Parole ja sogar strafrechtlich verfolgt. Ob das so pauschal richtig ist? Da bin ich unsicher. Auch da würde ich sagen, dass es vom Kontext abhängt.
Im Beschluss der Linken heißt es, die IHRA-Definition sei "ein massives Einfallstor für autoritäres, staatliches Handeln", "um unliebsame Kritik und politischen Protest zu verhindern". Könnte da aus Ihrer Sicht was dran sein?
Nein. Das war nie die Absicht der Definition.
Aber wird sie vielleicht heute so benutzt?
Das ist genau der Punkt: Die IHRA-Definition wird ständig missbraucht - auch in Deutschland, weil der Satz fehlt, der darauf hinweist, dass Kritik an Israel, die mit der Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht antisemitisch ist. Dafür kann die Definition nichts. Ein Kritikpunkt an der IHRA ist, dass ihre Beispiele einen starken Fokus auf Israel haben. Das ist bei der JDA allerdings auch so, und das hat auch einen Grund: Die klassischen Formen des Antisemitismus sind nicht umstritten. Eine Kontroverse gibt es immer nur um die Frage, wo bei der Kritik an Israel die Grenzen zum Antisemitismus überschritten werden.
Die Linken-Politikerin Martina Renner kommentierte, es gehe nicht um Definitionen, "sondern darum, Personen und Gruppen vom Antisemitismus-Vorwurf freizusprechen, um weiter kooperieren zu können".
Wenn man die Jerusalemer Erklärung so auslegt, wie einige bei den Linken das offensichtlich tun, dann besteht die Gefahr, dass man gewissen Leuten einen Freibrief gibt. Denn auch die JDA wird missbraucht. Und auch sie kann nichts dafür, wenn sie weiter ausgelegt wird, als es von den Autoren und Unterzeichnern beabsichtigt war.
Mit Juliane Wetzel sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de