Lehren aus Grünen-Parteitag Wahlkampf ist nichts für Weicheier
13.06.2021, 15:30 Uhr
Haben sich mit ihrem Regierungsprogramm durchgesetzt: Die Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock.
(Foto: dpa)
Für die Grünen geht ein richtungsweisender Parteitag zu Ende. Das 140 Seiten starke Wahlprogramm steht, das Spitzenduo wurde mit großer Mehrheit bestätigt - nur die Leichtigkeit muss wieder zurückkehren. In den vergangenen Wochen hat die Partei Federn lassen müssen. Zwar war ihrer Führung um Annalena Baerbock und Robert Habeck durchaus bewusst, dass die Attacken der Gegner zahlreich werden würden. Doch auf die Realität konnten sie sich nur bedingt vorbereiten.
Auf die Sachebene zurückzukommen, ist nun das Ziel. Denn programmatisch wollen die Grünen raus aus dem Rahmen einer Ein-Themen-Partei. Klimaschutz, so die Botschaft, bleibt wichtig. Aber auch mit ihrer Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik will die Partei beim Wähler Punkte sammeln. Fundamentalpositionen finden sich im Wahlprogramm kaum noch. Die Grünen haben sich von der Spitze bis zur Basis aufs Regieren (oder zumindest Mitregieren) getrimmt.
Grüne haben neuen Mut getankt
Nach anfänglicher Euphorie - auch dank des zwischenzeitlichen Umfragehochs - sind die Grünen im Wahlkampf angekommen. Und der macht zuweilen wenig Spaß. Nicht nur selbstverschuldete Fehler boten dem Gegner in den vergangenen Wochen reichlich Stoff für Attacken, auch mit alten Klischees der Verbots-, Gutverdiener- und Moralisten-Partei sind die Grünen wieder konfrontiert. Die zu entkräften, kostet viel Energie. Ein bisschen Selbstvergewisserung tat da bitter Not. Und sie kam in Gestalt einer "Jetzt erst recht"-Atmosphäre, die selbst auf diesem digitalen Parteitag deutlich spürbar war. Zielscheibe zu sein, hat die Grünen offenbar zusammengeschweißt.
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erlebte eine regelrechte Woge der Sympathie. Stehenden Beifall erhielt sie trotz einer eher technischen als leidenschaftlichen Parteitagsrede, die sie im Vorbeigehen an Co-Chef Robert Habeck mit dem selbstkritischen Kommentar "Scheiße" abschloss. Der Grund: Sie hatte sich zwischendurch im Redemanuskript verhaspelt. Der Wille zur Perfektion ist nach wie vor groß - vor allem, weil die Grünen im Gegensatz zur Union anfangs eindrücklich demonstriert haben, wie eine reibungslose Aufstellung für den Wahlkampf aussieht. Auf diesen Pfad wollen sie nun zurückkehren.
Das Wahlprogramm radikal - wo?
Die Grünen haben ein ehrgeiziges Wahlprogramm verabschiedet - und es ist weder radikal noch frei von Punkten, die für Streitpotenzial sorgen werden. Der Mindestlohn soll auf 12 Euro steigen, auch ein höherer Spitzensteuersatz für Gutverdiener ist im Programm verankert. Hartz-IV-Beziehern versprechen die Grünen 50 Euro mehr im Monat. Mit Blick aufs Klima soll der CO2-Preis auf 60 Euro angehoben werden. Für den Verbrennungsmotor will die Partei bis 2030 ein Ende durchsetzen. Auf Autobahnen soll künftig ein Tempolimit von 130 gelten. Und bewaffnete Drohnen sind nicht kategorisch ausgeschlossen.
Damit bieten die Grünen inhaltlich weit weniger Angriffsfläche, als die vielen Änderungsanträge im Vorfeld des Parteitags suggeriert hatten: Weder wird es mit ihnen ein Ende der Schuldenbremse geben, noch sollen Wohnungskonzerne verstaatlicht werden. Auch ein 70er-Tempolimit auf Landstraßen ist passé. In den meisten Streitpunkten hat sich der Bundesvorstand durchgesetzt - mit Zielvorgaben, die ihm erreichbar erscheinen. Damit sendet die Partei eine klare Botschaft: Wir wollen (mit-)regieren, statt mit Radikalpositionen "in Schönheit zu sterben", wie es Cem Özdemir formuliert hat.
Flirten mit der Wirtschaftselite
Den Vorwurf, eine wirtschaftsfeindliche Politik zu machen, müssen sich die Grünen seit Langem gefallen lassen - nicht erst, seitdem sie sich klar gegen Nordstream 2 positionieren. Dass sich Klimaschutz und industrieller Fortschritt nicht widersprechen, ist deshalb zum zentralen Argument des grünen Wahlkampfes geworden. In ihrer Rede streckte Baerbock bewusst die Hand nach den deutschen Unternehmen aus und versprach, auch der Staat werde die Kosten für klimaneutrales Wirtschaften mittragen. Ohnehin sind die Grünen davon überzeugt, dass die Wirtschaft in diesem Punkt längst weiter ist als die Politik. Der Mut für Investitionen sei vorhanden, nur der gesetzliche Rahmen fehle noch. Und den wollen die Grünen schaffen.
Dass sie dialogbereit sind, sollte Gastredner Joe Kaeser unter Beweis stellen. Der Ex-Siemens-Chef hatte schon vergangenes Jahr beim grünen Wirtschaftskongress gesprochen - nun warb er erneut für eine "sozial-ökologische Marktwirtschaft". Seine Nähe zu den Grünen ist nicht unbedingt erwartbar, immerhin galt er Klimaschützern noch vor Kurzem wegen des Baus einer Kohlemine in Australien als fleischgewordener Beweis für die Profitgier großer Konzerne - auch auf Kosten der Umwelt. Zu Kanzlerkandidatin Baerbock hat er aber einen Draht. Zuletzt warb Kaeser offen für sie als Nachfolgerin von Angela Merkel. Und Baerbock weiß als ehemalige Grünen-Landesvorsitzende im "Braunkohleland" Brandenburg sehr gut, dass es ohne die Wirtschaft nicht geht.
Dieser Wahlkampf wird schmutzig
Auch wenn vom Parteitag ein Zeichen der Geschlossenheit ausgeht, müssen sich die Grünen bis zur Bundestagwahl auf dreieinhalb weitere Monate harter Attacken gefasst machen. Allein das zu Ende gehende Wochenende bot dem politischen Gegner neuen Anlass zur Empörung. Weil Gastrednerin Carolin Emcke das Schicksal der Juden mit der Stimmungsmache gegen Klimaschützer verglichen haben soll, kochte es in der konservativen Berliner Blase wieder einmal hoch. Da war der Ärger über eine Moses-Bildmontage mit Baerbock als Verkünderin der 10 Verbote noch nicht einmal verraucht. Anzunehmen ist, dass sich die Frequenz solcher Attacken - auch durch die sozialen Medien - noch verstärken wird.
Bislang lautet die Antwort der Grünen darauf: aushalten und - wenn nötig - richtigstellen. Die Frage ist, ob das auch beim Wähler ankommt. Die letzten Umfragen deuten eher auf das Gegenteil hin. Schon wächst wieder die Skepsis, die Partei könnte dem Bürger irgendwann doch noch ans Eigenheim oder Grillsteak wollen. Die Gefahr für die Grünen bleibt, dass sie in einen Polarisierungswahlkampf hineingedrängt werden, in dem nur noch die Frage zählt: Was darf's denn sein - alles beim Alten oder alles ganz schlimm? Für die Union wäre das ein recht dankbares Duell. Um die Mitte zu gewinnen, werden die Grünen wohl oder übel auf Angriff schalten müssen.
Quelle: ntv.de