Politik

Offensive nun auch in Süd-Gaza Warum Israel bald die Strategie ändern muss

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Israel macht offiziell, dass es nun seine Angriffe auch auf den Süden Gazas ausweitet. Viele Palästinenser zwingt das erneut zur Flucht.

Israel macht offiziell, dass es nun seine Angriffe auch auf den Süden Gazas ausweitet. Viele Palästinenser zwingt das erneut zur Flucht.

(Foto: IMAGO/Xinhua)

Seit zwei Tagen greift Israel auch den Süden Gazas massiv an - und bekommt Gegenwind aus den USA. Das kann Premier Netanjahu nicht egal sein. Doch die militärischen Kräfte zurückzufahren, wird aus mehreren Gründen schwierig.

Sieben Tage Atempause sind vorbei. Seit Samstag feuert die Hamas wieder viele Raketen auf Israel, ist auch der Gazastreifen erneut unter Beschuss, aus der Luft und am Boden. Wieder kursieren im Internet die Filme von zertrümmerten Gebäuden, Menschen unter Schutt begraben, Verletzten in Panik - nur diesmal, und das schockiert viele, stammen die Bilder aus dem Süden Gazas.

Der südliche Gazastreifen, vom Zentrum bis runter an die Grenze zu Ägypten, galt bisher als der Teil Gazas, in dem die zwei Millionen Zivilisten Zuflucht finden konnten. Dorthin schickte das israelische Militär die Menschen per Messenger-Nachrichten und Flugblättern, dorthin bewegten sich Hunderttausende Palästinenser, zumeist zu Fuß, in großen Flüchtlingszügen. Nun also sterben Unbeteiligte auch dort durch israelische Bomben.

Der Gazastreifen bietet nirgends wirkliche Sicherheit

Inzwischen hat die Armee ihre Bodenoffensive nach eigenen Angaben auf den "gesamten Gazastreifen" ausgeweitet. Palästinensische Flüchtlinge berichten, wie sie sich nun zum zweiten, manche zum dritten oder vierten Mal auf den Weg machen, um Schutz zu suchen, den es am Ende des Tages womöglich nirgendwo gibt. Denn ein nur 40 Kilometer langer Küstenstreifen, der von einer der Kriegsparteien untertunnelt wurde, kann, solange die Kämpfe andauern, nirgendwo wirkliche Sicherheit bieten.

"Dennoch wird nach Sektoren unterschieden, wo das Sicherheitsrisiko relativ betrachtet höher oder niedriger sein soll", sagt Stephan Stetter, Nahostexperte von der Universität der Bundeswehr München. Die israelischen Streitkräfte (IDF) verteilen derzeit Flugblätter mit einem QR-Code, der auf eine Website in arabischer Sprache weiterleitet. Hier findet sich das gesamte Gebiet des Küstenstreifens optisch in mehr als 620 Sektoren unterteilt. Allerdings funktioniert das Handynetz im Gazastreifen nicht immer, ist die Seite darum nicht ständig und für jeden zugänglich.

Die IDF benennen derzeit 27 Gebiete, die geräumt werden sollen, allesamt befinden sich im Süden, rundum die Stadt Khan Yunes, die nun verstärkt unter Feuer genommen wird. Als "humanitäre Zone", wohin sich die Menschen von dort aus begeben sollen, weist Israel unter anderem ein kleines Küstengebiet um den Ort Al-Mawasi aus. Laut Armeesprecher Jonathan Conricus sind sich die Streitkräfte "durchaus bewusst, dass der Platz und der Zugang begrenzt" sind. Umso wichtiger sei es, dass "internationale Hilfsorganisationen bei der Infrastruktur von Al-Mawasi mithelfen".

International mehren sich die Stimmen, die Israel auffordern, die Bevölkerung Gazas wirksamer zu schützen als derzeit der Fall. Unter ihnen der französische Präsident Emmanuel Macron, heute auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris. "Zu viele unschuldige Palästinenser sind getötet worden", sagte sie in Dubai am Rande der Klimakonferenz. Lloyd Austin, der amerikanische Verteidigungsminister mahnte, ein Krieg in urbanen Gebieten lasse sich nur durch den Schutz von Zivilisten gewinnen.

Zwei kritische Stimmen, die für Israel sehr von Belang sind, denn die Vereinigten Staaten sind sein mit Abstand wichtigster internationaler Partner. In Washington tickt die Uhr, die bemisst, wie viel Zeit Israels Streitkräften noch bleibt, um die Hamas in ihrer militärischen Kraft so nachhaltig zu schwächen, ihre Kommandostrukturen so massiv zu zerschlagen, dass sie danach nicht mehr handlungsfähig wäre. Sollten die USA irgendwann "Stopp" sagen, dann müsste Israel seinen Verteidigungsschlag ziemlich sicher bald beenden.

Wohin sollen die Menschen aus dem Süden fliehen?

Noch kommt kein Stoppsignal aus dem Weißen Haus, doch Einlassungen wie die von Harris und Austin muss Premier Benjamin Netanjahu sehr ernst nehmen. "Sie werden es Israel schwerer machen, in den kommenden Tagen im Süden des Gazastreifens so zu agieren, wie die Truppen im Norden vorgegangen sind", sagt Stetter ntv.de. Und wohin sollte die Bevölkerung von dort aus fliehen?

Kairo schließt nach wie vor kategorisch aus, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen. Konfliktforscher Stetter sähe in einem solchen Schritt auch ein "großes Bedrohungspotential für die internationale Lage". Eine Fluchtbewegung aus Gaza über die Grenze nach Ägypten würde von arabischen Staaten sofort als dauerhafte Vertreibung der Palästinenser interpretiert werden. "Vor dem Hintergrund der palästinensischen Geschichte, vor allem der 'Nakba' - wie die Palästinenser die Vertreibung im Kriegsverlauf von 1948 nennen -, wäre das sehr gefährlich."

Würden im Süden des Gazastreifens auch zivile Gebäude so schwer zerstört wie in den nördlichen Gebieten, dann wäre ein Wiederaufbau noch schwerer denkbar. Stetter versteht die internationalen Statements als "Warnung auf der taktischen Ebene". Noch kann Israel seinen Verteidigungsschlag nach der einwöchigen Feuerpause mit Billigung der USA fortsetzen. Arabische Länder wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate unterhalten ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel weiter. Auch Katar und Saudi-Arabien halten ihre Kontakte bisher aufrecht. Israel hat also noch Handlungsspielraum.

Aber das Signal aus Washington ist deutlich: Ihr könnt weitermachen, aber das muss operativ militärisch anders geschehen als im Norden, nämlich gezielter, systematischer, mit weniger zivilen Opfern. Die humanitäre Lage darf nicht völlig außer Kontrolle geraten.

Regierung und Streitkräfte bringt das in eine Zwickmühle: Denn den Erwartungen der wichtigen Partner zu entsprechen, würde bedeuten, von massiven Angriffen durch Bombardements stärker umzustellen auf Bodentruppen und Spezialkommandos. Und während massives Bombardieren ohne starke eigene Verluste erfolgen kann, heißt "gezielter und systematischer", die israelischen Soldaten im Einsatz einem größeren Risiko auszusetzen. Würden die IDF in den kommenden Wochen deutlich mehr Gefallene melden müssen, könnte das ein innenpolitisches Problem werden. Israel ist eine Gesellschaft, die jedem einzelnen Menschenleben einen sehr hohen Wert beimisst. Je stärker aber die Zerstörungen, je höher die Opferzahlen in Gaza, desto schwieriger wird es wohl nach dem Krieg werden, zu einer politischen Lösung zu kommen.

Abschrecken, um zwischen Gegnern zu überleben

Ein weiterer Punkt spricht aus Israels Sicht dagegen, dass seine Truppen die Massivität ihres Gegenschlags einschränken werden, und das ist seine abschreckende Wirkung: Von vielen Feinden umgeben ist Abschreckung Israels Lebensversicherung. Der Angriff am 7. Oktober hat das Land so schwach und verwundbar gezeigt, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte. "Darum ist Israel nun sehr daran gelegen, die eigene Abschreckungskraft wieder aufzubauen. Die starken Zerstörungen tragen aus der Warte vieler Israelis dazu bei", sagt Stetter. "Zumindest erhofft man das strategisch."

Aus seiner Sicht heben die internationalen Warnungen an Israel noch auf einen zweiten Punkt ab. Es gebe "eine berechtigte Sorge in vielen Hauptstädten, dass Israel unter der Hand ganz andere Kriegsziele verfolgt als nur die militärische Zerstörung der Hamas". Diese Ziele könnten stärker dem entsprechen, was die radikal rechten Kräfte in der israelischen Regierung erreichen wollen. In den vergangenen Wochen ließen sich Netanjahus Koalitionspartner damit zitieren, dass etwa ein Minister jegliche humanitäre Hilfe für die von ihm so bezeichneten "Monster aus Gaza" ablehnt, ein anderer den Gazastreifen am liebsten entvölkert sehen würde - womöglich auch unter Einsatz einer Atombombe.

Wenn die rechtsradikale Partei "Jüdische Stärke" auch nur eine kleine Partnerin in der Regierungskoalition ist, so breitet sich international dennoch Nervosität aus, weil die große Partnerin, Netanjahus Likud, nicht dagegen hält und auch nicht - trotz Drucks aus den USA - selbst einmal präzisiert, wie sie sich die Zukunft Gazas nach Ende des Krieges vorstellt.

Von einer "Pufferzone" war jüngst die Rede, und dieser Wunsch stößt nach Einschätzung Stetters durchaus auf Verständnis im Westen und unter der Hand auch in einigen arabischen Staaten. Nur möchte man dringend wissen, für wie lange Zeit diese Pufferzone gedacht wäre und wie sie genau funktionieren soll? Wann die Bevölkerung, derzeit zusammengepfercht im Süden, wieder zurückkehren könnte in ihre Heimatgebiete? Wer aus den Trümmern neue Häuser aufbauen wird? "All diese politischen Fragen stellen sich Israels Partner, und die wichtigste Frage lautet: Welche Rolle wird die Palästinensische Autonomiebehörde spielen nach dem Krieg?"

Sieht Israel für Gaza und auch für das Westjordanland nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Perspektive? "Es gibt in Israel viele Kräfte, die bereit wären, Antworten auf diese Fragen zu geben", sagt Stetter. "Die sitzen nur zum Großteil gerade nicht in der Regierung."

Die Geduld der USA ist endlich, auch mit Israel, auch wenn man in der Sache ohne Wenn und Aber hinter seinem Recht auf Selbstverteidigung steht. Doch wenn sich Netanjahu für seinen Verteidigungsschlag die notwendige Unterstützung aus Washington sichern will, dann muss sich Israels Strategie wohl bald sichtbar verändern - in den Aussagen der Regierung und auf dem Schlachtfeld.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen