Politik

Nicht mehr ausländerfrei Warum Sachsen-Anhalt Flüchtlinge braucht

Seit Anfang des Jahres kamen mehr als 17.000 Flüchtlinge nach Sachsen-Anhalt.

Seit Anfang des Jahres kamen mehr als 17.000 Flüchtlinge nach Sachsen-Anhalt.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die Flüchtlingskrise verändert den Alltag, vor allem in ostdeutschen Städten. Alte Stereotype kollidieren mit neuen Erfahrungen. Die Zuwanderer könnten helfen, ein dringendes Problem zu lösen - wenn das so einfach wäre.

"Schwarz ist meine Lieblingshautfarbe", sagt Waltraud Wolff lachend und setzt sich zwischen ihren Fraktionskollegen, den senegalesisch-stämmigen Karamba Diaby, und den malischen Flüchtling Omar Diarra. Die Bundestagsabgeordnete ist mit ihren sachsen-anhaltinischen Kollegen aus der SPD-Fraktion nach Wolmirstedt gekommen. In Sachsen-Anhalt wurden in diesem Jahr 17.000 Asylanträge gestellt, 8500 seit Anfang August. Bis Ende 2015 rechnet das Innenministerium mit insgesamt 30.000. Und wie läuft die Integration der Flüchtlinge? Um das zu erfahren, sind die SPD-Politiker hier.

In der Gemeinschaftsunterkunft unterhielten sich SPD-Politiker (rechts: Karamba Diaby und Waltraud Wolff) mit Flüchtlingen.

In der Gemeinschaftsunterkunft unterhielten sich SPD-Politiker (rechts: Karamba Diaby und Waltraud Wolff) mit Flüchtlingen.

In Wolmirstedt, einem 12.000-Einwohner-Städtchen zwischen Stendal und Magdeburg, betreibt die Wohnungsbaugesellschaft PeWoBe seit April eine Gemeinschaftsunterkunft, in der 90 Männer untergebracht sind. Durch einen Containeranbau soll die Kapazität noch um zunächst 60 Plätze vergrößert werden. Der Ägypter Ibrahim Sayed ist Leiter des Heims. "Es funktioniert gut, wir sind nicht überbelegt und es gibt fast gar keine Konflikte", sagt er. Auf die Frage, was nicht so gut läuft, sagt er: "Unsere Bewohner spielen jeden Tag Fußball, ihnen fehlen Möglichkeiten, sich zu beschäftigen." Es gibt Sportgruppen, gemeinsames Kochen mit Schülern einer nahe gelegenen Schule, auch Fahrten nach Magdeburg gehören zu den Aktivitäten. Doch so richtig befriedigend ist das für die Bewohner nicht. Sie wollen arbeiten und sich ein neues Leben aufbauen, aber das ist nicht so einfach.

Omar Diarra aus Mali ist schon seit zwei Jahren in Deutschland. In der Heimat war er Bauhelfer, hier darf er nicht arbeiten. Er kam ohne Pass, die Botschaft verlangt aber ein Dokument, mit dem er sich identifizieren kann. In holprigem Deutsch sagt er: "Ich würde gern eine Ausbildung machen, aber ich komme nicht weiter." Die SPD-Politiker werfen sich betroffene Blicke zu. Einer fragt: "Kann dir denn aus deiner Heimat niemand eine Geburtsurkunde oder ein Zeugnis zuschicken?" Aber das ist nicht so leicht, wenn man aus Mali kommt. So ist Omar einer von Tausenden Geduldeten in Sachsen-Anhalt. Alle sechs Monate wird sein Status verlängert. "Er kann nachweisen, dass er integrationswillig ist. Es ist fast sicher, dass er nicht abgeschoben wird", sagt Karamba Diaby.

Mit am Tisch sitzt Gazmend Syla. Er kommt aus dem Kosovo, hat dort als Kellner gearbeitet. "Man will mich abschieben. Warum?", fragt er. Der Kosovo zählt bald als sicherer Herkunftsstaat. Neu ist: Mit einem gültigen Arbeitsvertrag könnte Gasmend als Arbeitsmigrant nach Deutschland kommen. Nur dazu müsste er zunächst zurück in die Heimat. "Leute wie Sie brauchen wir", ermuntert ihn SPD-Innenexperte Burkhard Lischka. Amidou Boni ist einen kleinen Schritt weiter. Der Mann aus Benin macht ein Praktikum in einer Gärtnerei. Wie es weitergeht, ist ungewiss. Die Sozialarbeiterin Christine Möller begleitet die Bewohner bei Amtsgängen und hilft bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse. "Man behandelt sie oft nicht wie Menschen, sondern wie eine Nummer", beklagt sie.

"Gib denen einen Besen"

Ende September feierte Wolmirstedt, die Stadt, die Landtagswahlkreis des sachsen-anhaltinischen Innenministers Holger Stahlknecht ist, ein Bürgerfest: "Bunt statt braun". Es kamen knapp 500 Menschen, deutlich mehr als zu der am selben Wochenende stattfindenden Rechten-Demo. Dennoch ist die Stimmung gegenüber den neuen Einwohnern gemischt. In der Stadt kursieren verschiedene Geschichten. Am Bahnhof erzählt ein Wolmirstedter, wie Flüchtlinge im Supermarkt vollgeladene Einkaufswagen an der Kasse vorbeigeschoben hätten. "Mutter Merkel zahlt das schon", hätten sie gesagt. "Gib denen einen Besen, dann können sie die Straße kehren", sagt er. Ein anderer berichtet, dass Schülerinnen von männlichen Flüchtlingen angesprochen worden seien, sogar von Heiratsanträgen ist die Rede. "Da macht man sich schon seine Gedanken", sagt der Vater einer zwölfjährigen Tochter. Bei pubertierenden Mädchen sei ja nichts auszuschließen.

Übergriffe gegen Flüchtlinge sind in Sachsen-Anhalt jedoch selten. Nachdem der kleine Ort Tröglitz im April in die Schlagzeilen geriet, weil eine Flüchtlingsunterkunft brannte, gab es nur wenige Zwischenfälle. Im benachbarten Sachsen ist die Zahl der rechten Straftaten doppelt so hoch. Dabei steht Sachsen-Anhalt vor einer ähnlichen Herausforderung. Noch Ende 2014 lag der Ausländeranteil unter drei Prozent. Plötzlich werden die Menschen mit Erfahrungen konfrontiert, die man in einer praktisch ausländerfreien Gesellschaft bisher nicht kannte.

Dennoch ist die Flüchtlingskrise auch eine Chance. Vor 30 Jahren hatte Sachsen-Anhalt mehr als drei Millionen Einwohner. Einer Prognose zufolge schrumpft das Land aufgrund des demografischen Wandels bis 2025 von aktuell mehr als 2,2 auf gut 1,9 Millionen Einwohner. Wenn die Hälfte der Zuwanderer bleibt, könnte das Land etwa die Zahl von Einwohnern ausgleichen, die sie im Jahr verliert. Die Bürgermeister in den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld, Mansfeld-Südharz, Stendal und Wittenberg, die besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffen sind, haben eine Perspektive, die bedrohte Infrastruktur ihrer Städte zu erhalten.

In diesen Tagen regiert jedoch auch in Sachsen-Anhalt der Ausnahmezustand. Im Jahr 2012 kamen wöchentlich weniger als zehn Flüchtlinge in den Landkreis Börde, zurzeit sind es 100. Über den Nachtragshaushalt stellt das Land zusätzliche Lehrer ein, erhöht die Kapazitäten für Lehramtsstellen an den Universitäten und fördert den Zugang für Seiteneinsteiger. Die Anerkennung von Berufserfahrungen der Flüchtlinge, die häufig kompliziert ist, soll erleichtert werden. Die Zuwanderer sollen helfen, den dringenden Bedarf an Krankenpflegern und Medizinern zu decken. "Wir müssen die Menschen hier halten. Wenn wir die Chance nicht nutzen, sind wir selbst Schuld", sagt Burkhard Lischka. Wie er die Stimmung im Land beurteilt? "Vor ein paar Wochen gab es eine riesige Euphorie in Deutschland, jetzt dominiert die Schwarzmalerei. Beides ist übertrieben", sagt er. Irgendwo dazwischen liegt die bundesdeutsche Realität.

Quelle: ntv.de

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