Eingeschlossen und unter Feuer Warum es in Berg-Karabach ums Überleben geht
19.09.2023, 20:03 Uhr Artikel anhören
Am "Latschin-Korridor" protestieren Menschen gegen die Blockade von Versorgungslieferungen für Berg-Karabach.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Die Bewohner von Berg-Karabach leiden seit Monaten: Seit Monaten blockiert Aserbaidschan die Lieferung von Nahrung, Sprit, auch Medizin. Nun ist die gebeutelte Region - die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird - auch noch unter Beschuss. Wie konnte dieser Konflikt so eskalieren? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wo liegen die Wurzeln des Konflikts?
Aserbaidschan und Armenien sind Nachbarstaaten, die beide bis Anfang der 1990er zur Sowjetunion gehörten. Schon als die UdSSR noch bestand, gab es einen Konflikt um das Gebiet Berg-Karabach, das beide für sich beanspruchten. Dabei gehen die Konfliktparteien in ihrer Argumentation jeweils weit in der bewegten Geschichte der Region zurück, um ihren jeweiligen Anspruch mit Belegen zu unterfüttern.
1923 entschieden die Bolschewiki, dass die Region als autonomes Gebiet zur Sowjetrepublik Aserbaidschan gehören solle. Die Bevölkerung in Berg-Karabach war allerdings schon damals ganz überwiegend armenisch und gegen diese Entscheidung. Dennoch lebten Armenier und Aserbaidschaner während der Sowjetzeit weitgehend friedlich nebeneinander, auch in Berg-Karabach.
Der Ausbruch von Feindseligkeiten seit 1988, und dann verstärkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, vertiefte und verschärfte den ursprünglichen Konflikt, der zugespitzt darin besteht, dass Berg-Karabach geografisch vollständig auf dem Gebiet von Aserbaidschan liegt, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Daraus ergeben sich die Argumente beider Seiten bis in die heutige Zeit: Aserbaidschan pocht auf territoriale Integrität, Armenien beruft sich auf das Recht auf Selbstbestimmung der Bevölkerung. Allerdings hat der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan in diesem Jahr anerkannt, dass Berg-Karabach zu Aserbaidschan gehört.
Welche Folgen hatten die beiden Kriege um Berg-Karabach?
Von 1992 bis 1994 mündete der Konflikt in einen Krieg, in dem es den Truppen von Berg-Karabach und Armenien gemeinsam gelang, weite Teile des Gebiets einzunehmen, das sie für sich beanspruchten. Die Auseinandersetzungen waren blutig, forderten auf beiden Seiten etliche tausend Todesopfer und machten Hunderttausende Bewohner der Region zu Binnenflüchtlingen
2020 startete Aserbaidschan eine Militäroffensive - offiziell mit dem Ziel, "besetzte Landesteile" zu befreien. Dazu gehörte die Region Berg-Karabach sowie sieben umliegende "Pufferzonen", die Armenien seit 1994 besetzt hielt. Aserbaidschan war dank des Verkaufs von Öl- und Gasvorkommen inzwischen wirtschaftlich potent und konnte den 44 Tage dauernden Angriffskrieg für sich entscheiden.
Ein Waffenstillstandsabkommen, das Russland vermittelt hatte, sah vor, dass Flüchtlinge zurückkehren können und dass russische Friedenstruppen in Berg-Karabach kontrollieren, dass es zu keinen neuen Auseinandersetzungen kommt. Aus Sicht Armeniens war das Abkommen eine furchtbare Niederlage, weil es große Gebiete an Aserbaidschan verlor.
Wie kam der Einschluss von Berg-Karabach zustande?
Durch den Verlust der "Pufferzonen" und eines Teiles von Berg-Karabach selbst an Aserbaidschan wurde eine bereits vertrackte Lage sogar noch schwieriger: Denn nun waren die Armenier in Berg-Karabach nahezu vollständig von Armenien abgekoppelt. Einzig ein schmaler Landkorridor mit Zugangsstraße, "Latschin-Korridor" genannt, erlaubt es Armenien noch, die Menschen in Berg-Karabach mit Nahrung und anderen Waren zu versorgen.
Wie spitzte sich die Lage zu?
Vor einigen Monaten begann Aserbaidschan damit, den Latschin-Korridor zu blockieren. Weder Lebensmittel noch Medikamente oder Treibstofflieferungen konnten den an der Zugangsstraße eingerichteten Checkpoint passieren. der Güterverkehr kam fast vollständig zum Erliegen, nicht mal Hilfslieferungen ließ man durch. "Es sieht sehr danach aus, dass Aserbaidschan die Lebensumstände in Berg-Karabach so unerträglich machen will, dass die Menschen genötigt werden, die Region zu verlassen", sagte die Osteuropa-Expertin Nadja Douglas Anfang September ntv.de.
Bereits im Februar verpflichtete der Internationale Gerichtshof in Den Haag Aserbaidschan, die Blockade von Berg-Karabach zu beenden. Doch weder dieser Beschluss noch die Vermittlungsversuche westlicher Akteure wie der USA oder der EU konnten die Regierung in Baku bislang davon abbringen, die Eingeschlossenen in Berg-Karabach tatsächlich langsam verhungern zu lassen.
Nun hat Aserbaidschan einen groß angelegten Militäreinsatz in Berg-Karabach gestartet, armenische Vertreter melden Tote bei Angriffen auf mehrere Städte. Die internationale Gemeinschaft ist alarmiert. Frankreich fordert eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats, US-Außenminister Antony Blinken nannte das Vorgehen Aserbaidschans "ungeheuerlich". Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte Aserbaidschan dazu auf, den Beschuss sofort einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Quelle: ntv.de