Politik

Neue Forschungsergebnisse Was das 9-Euro-Ticket wirklich gebracht hat

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Wenn der Bus auf dem Land nur alle paar Stunden fährt, ist der Preis auch kein Argument zum Umsteigen.

(Foto: picture alliance / Daniel Kubirski)

Schon am Wochenende könnte die Koalition eine Grundsatzentscheidung zum Nachfolger des 9-Euro-Tickets fällen. Neue Forschungsergebnisse stellen allerdings manchen Vorteil der Maßnahme infrage, zeigen aber auch auf, welche Aspekte unbedingt beibehalten werden müssten.

Eine Zahl geht durchs Land und um die Welt, nachdem sie auch die Wirtschaftsagentur Bloomberg in ihrem englischsprachigen Dienst aufgenommen hat: 1,8 Millionen Tonnen CO2-Emissionen soll die Bundesrepublik über drei Monate eingespart haben dank des 9-Euro-Tickets. Das ist fast so viel, wie sich Forscher von der Einführung eines allgemeinen Tempolimits versprechen - übers Gesamtjahr. Das Problem: Wie valide dieser Wert ist, muss angezweifelt werden. "Das Mobilitätsverhalten abzufragen und zu beobachten, ist nicht trivial. Jede Methodik hat ihre Schwächen", schränkt Mark Andor, Forschungsgruppenleiter beim RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung ein. Andor schätzt während einer Presserunde des Science Media Centers die Einsparungen mit 200.000 bis 700.000 Tonnen CO2 deutlich geringer ein.

Die vergangenen drei Monate waren ein gewaltiges, 2,5 Milliarden Euro teures Experiment, und die Politik steht unter Druck, noch vor vollständiger Auswertung und Veröffentlichung fundierter Daten aus der Forschung eine Entscheidung über das "Wie weiter?" treffen zu müssen. Die angeblich eingesparten 1,8 Millionen Tonnen CO2 sind eine Zahl des in der Debatte nicht unparteiischen Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), der eine Umfrage in Auftrag gegeben hatte und die Eigenauskünfte der Befragten über ihr Nutzungsverhalten hochgerechnet hat. Dass aber tatsächlich so viele Menschen auf Autofahrten verzichtet haben, insbesondere Pkw-Pendler in großer Zahl auf öffentliche Verkehrsmittel umgestiegen sind, muss bezweifelt werden.

Viele Freizeitaktivitäten, kaum Über-Land-Pendler

Andors Zahlen beispielsweise deuten ihm zufolge darauf hin, "dass das Autofahrverhalten nicht so stark zurückgegangen ist". Auch Claudia Nobis, Leiterin der Forschungsgruppe Mobilitätsverhalten am DLR-Institut für Verkehrsverhalten ist vorsichtig. Das 9-Euro-Ticket sei zwar "unglaublich oft verkauft worden - "Rund die Hälfte der erwachsenen deutschen Bevölkerung hat ein solches Ticket besessen", sagt Nobis -, aber: "Viele haben es eben selten genutzt und dann überwiegend im Freizeitverkehr." Plus: "Im ländlichen Raum sind die Tickets eher weniger verkauft worden", weiß Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, zu berichten.

Das 9-Euro-Ticket: ein Flop? Nein, ganz und gar nicht. Nur warnen Nobis, Andor und Knie zu einem so frühen Zeitpunkt nach Auslaufen der Aktion vor absoluten Bewertungen, eben weil Mobilitätsverhalten komplex zu analysieren ist. "Wir müssen sehr vorsichtig sein mit weitreichenden Schlussfolgerungen." Es sei schwer zu messen, welche Fahrten Autofahrten ersetzt haben und welche zusätzlich waren. "Man kommt über ein solches Ticket erst auf Ideen, bestimmte Dinge zu machen", sagt Nobis. "Die, die es häufig genutzt haben, haben es zur Hälfte für den Arbeitsweg genutzt." Nur seien die häufigen Nutzer eben oft auch vorher schon regelmäßige Bus- und Bahnfahrer gewesen. Bei den Gelegenheitsnutzern habe es "keine Riesenverlagerungen" gegeben.

"Der ÖPNV war plötzlich cool"

Für die Wenig- bis Geringnutzer muss das 9-Euro-Ticket dennoch nicht vergeblich gewesen sein. Von "Schnupperverkehren" spricht Knie über die Menschen, die nach Jahren ausschließlicher Auto-Mobilität mal wieder Bus und Bahn ausprobiert haben. Hinzu komme der Image-Gewinn: "Das Ticket war plötzlich in aller Munde. Der ÖPNV war plötzlich cool, wann hatten wir das?" Der größte Gewinn, da sind sich die drei Forschenden einig, sei die Einfachheit eines bundesweit gültigen Nahverkehrstickets zum Einheitspreis gewesen. "Wir haben gesehen, dass zwei Drittel der Personen diese bundesweite Gültigkeit total klasse finden", sagt Nobis.

Hinzu kommt der sozialpolitische Aspekt: Vor allem Geringverdiener konnten mit Kind und Kegel Freizeitfahrten unternehmen, die sie weit günstiger als jedes Sozialticket kamen, wie Knie sagte. Nach seinen Erhebungen waren die Nutzer des 9-Euro-Tickets öfter Frauen als Männer und eher jünger. Andor weiß, dass die Nutzer eher urban lebten und tendenziell kein Auto besitzen. "Je größer die Stadt, desto mehr haben das genutzt", sagt Andor. Auf dem Land dagegen wurde das Angebot bei Weitem nicht so stark angenommen, wie auch Lars Boehme, Geschäftsführer der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft (UVG), bei ntv.de berichtete.

Ein Problem für strukturschwache Flächenländer

Dementsprechend unterschiedlich stark ist der Anreiz für die Bundesländer, sich - wie von Verkehrsminister Volker Wissing gefordert - selbst substanziell am Nachfolge-Ticket zu beteiligen. Flächenländer mit stark unterversorgten Regionen müssten zwei- bis dreistellige Millionenbeträge aufwenden, ohne dass sich das Verkehrsangebot bessert und dementsprechend die Nutzung weiter schwach bleibt. Zumal laut Nobis auf dem Land neun von zehn Haushalten mindestens einen Pkw zur Verfügung haben und sich "sehr starke Auto-orientierte Routinen" etabliert hätten. Schule, Arzt, Arbeitsplatz, Verein, Supermarkt: Was es nicht im Dorf gibt, wird mit dem Auto angefahren.

"Der ländliche Raum für Menschen, die nicht Ausbildungswege machen, ist für den ÖPNV praktisch verloren", sagt Knie. So gesehen wären Millionenbeträge aus dem eigenen Haushalt für das Nachfolgeticket für Länder wie Brandenburg, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern ein schlechtes Investment. Zumindest wenn nicht zeitglich Bus und Bahn ausgebaut werden - wofür sie Bundesmittel einfordern. Es ist aber wiederum Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner, der es sich um Ziel gesetzt hat, Mischfinanzierungen stärker zurückzufahren. Und Nahverkehr ist nun einmal grundsätzlich Ländersache.

Regierung unter Druck

Dennoch muss Wissing schnell eine Lösung präsentieren. Eine Entscheidung, wohin die Reise gehen soll, könnte schon im am Wochenende tagenden Koalitionsausschuss fallen. "Es ist sehr schade, Kundengruppen die gerade wieder angefangen haben, den ÖPNV zu nutzen, wieder absacken zu lassen", mahnt Nobis zur Eile. Zum anderen erweist sich die finanzielle Entlastung für die unteren bis mittleren Einkommensgruppen - zumindest in den ÖPNV-starken Ballungsgebieten - in Zeiten der Inflation als besonders wirksam. Abonnenten und regelmäßige Nutzer bekamen die Preisersparnis direkt zu spüren. Knie verweist zudem darauf, dass niemand nach drei Monaten seinen Pkw verkaufe. Bei einem dauerhaft günstigen attraktiven Angebot könne der Anreiz zum Umstieg stärker werden. Zudem hat sich die vorhergehende Bundesregierung verordnet, bis 2030 den Anteil von Bus und Bahn am Gesamtverkehrsaufkommen auf 38 Prozent zu steigern. Derzeit gehe der Anteil "sicherlich nicht über 10, 13 Prozent hinaus", schätzt Knie. Wissing soll also eine Verdreifachung binnen acht Jahren auf den Weg bringen.

Aber zu welchem Preis? In einer Umfrage, auf die sich Andor stützt, haben viele Befragte bei einem Preis höher als 29 Euro schon abgewunken. In der Debatte ist aber bei den Regierungsparteien nur ein bundesweites Ticket zwischen 49 und 69 Euro, wobei die Grünen ein regionales Ticket für 29 Euro vorschlagen. Das könne durchaus sinnvoll sein, sagt Andor. Er empfiehlt dennoch, von einer möglichen größeren Summe für den ÖPNV einen großen Teil in den Ausbau von Infrastruktur und Kapazitäten zu investieren, anstatt davon allein günstige Tickets zu finanzieren. "Wir sehen auch in großen Städten: Je besser das ÖPNV-Angebot ist, desto mehr Menschen nutzen es auch." Geringverdiener könnten zusätzlich gezielt unterstützt werden.

Auch Nobis hält die Einfachheit des Tickets und ein gutes Angebot für mindestens genauso wichtig wie den Preis: "Eine Gruppe, die in einer gewissen Regelmäßigkeit fährt, und die auch ein gutes Angebot zur Verfügung hat, die ist auch bereit, einen gewissen Preis zu zahlen."

Quelle: ntv.de

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