Politik

Offener Brief an Krone-Schmalz "Was gibt es da zu verstehen?"

Russlands Präsident Wladimir Putin.

Russlands Präsident Wladimir Putin.

(Foto: REUTERS)

Der Begriff "Russlandversteher" werde in Deutschland zur Stigmatisierung und Ausgrenzung benutzt, klagt die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz in ihrem jüngst erschienenen Buch. Slawistik-Professor Mathias Freise antwortet mit einem Offenen Brief.

Sehr geehrte Frau Krone-Schmalz,

Sie haben ein Buch publiziert mit dem schönen Titel Russland verstehen.

Ich bin als Professor für Slavische Philologie jemand, den man einen Russland-Versteher nennen könnte. Viele Monate habe ich in Russland verbracht, ich publiziere fast nur noch auf Russisch, zu vielen Kolleginnen und Kollegen in russischen Universitäten unterhalte ich freundschaftliche Beziehungen. Meine Liebe zu Russland wurde geboren aus der Liebe zur russischen Literatur, dieser einmaligen Kombination tiefen Nachdenkens mit artistischer Virtuosität. Und gerade weil ich Russland liebe, lassen mich die Ereignisse seit der Annektion der Krim nicht mehr ruhig schlafen.

Vor allem die mediale Begleitmusik aus den russischen staatlichen Medien fügt mir einen geradezu physischen Schmerz zu. Sie als Russland-Kennerin unter den Medienwissenschaftlern verfolgen doch sicherlich die offizielle russische Berichterstattung zur Ukraine. Was gibt es da zu verstehen? Selbst wenn man sich streng um Neutralität bemüht, selbst wenn man realpolitisch von Interessen und Einflusssphären spricht - selbst dann ist diese Berichterstattung unerträglich. Ich war in der Brezhnev-Zeit in Moskau, ich weiß, was sowjetische Propaganda war, doch sie reichte nicht an dieses Gemisch von Lügen und Hetze heran. Warum ruft das nicht Ihre Empörung als Journalistin hervor? Sprechen Sie darüber in ihren medienwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen?

Seit 2003 hat Matthias Freise die Professur für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen inne.

Seit 2003 hat Matthias Freise die Professur für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen inne.

Tatsächlich stimmen die meisten Menschen in Russland nicht in die Kritik des Westens an Putins Politik ein. Doch nicht aus Solidarität mit der Regierung. Kennen Sie nicht dieses charakteristische russische Lebensgefühl, diese Mischung aus Resignation, Angst und Konzentration auf die Alltagsdinge? Dieses reflexhafte Wegschauen von der politischen Bühne? "Lies nicht so viel Zeitung", raten mir meine russischen Freunde, wenn ich ihnen schreibe, wie sehr mich der Krieg Russlands gegen die Ukraine belastet. Und diese Haltung spielt einer politischen Führung in die Hände, die, vom Volk gewählt, im Namen dieses Volkes agiert. "In eurem Namen wird in der Ukraine getötet", schreibe ich meinen Freunden, doch wie Sie genauso wissen wie ich, sieht man als Russe sein Verhältnis zur Obrigkeit anders. Sie erscheint ihm auferlegt, als unvermeidliches Übel.

Umso erstaunlicher ist die jüngste Entwicklung der Ukraine, die Majdan-Bewegung. Blutete Ihnen nicht das journalistische Herz, wenn die Aktivisten für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft von den russischen Medien als vom Westen gesteuerte faschistische Banden verunglimpft wurden?

Sie und ich, wir versuchen beide, Russland zu verstehen. Wenn wir dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, dann liegt das nicht am unterschiedlichen Informationsstand oder an einem unterschiedlichen politischen Hintergrund. Es liegt daran, wem wir jeweils unsere Empathie schenken, dem russischen Volk oder der politischen Führung im Kreml.

Doch versuchen wir das aus meiner Sicht eigentlich Unstatthafte, versuchen wir uns sogar in die politische Führung Russlands einzufühlen. Hier wird am häufigsten das Argument der Einkreisungsängste angeführt. Und das Argument, der Westen habe "den kalten Krieg gewonnen", weil Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion schwach gewesen sei. Ja, auch Frankreich hatte seine Probleme mit dem Zerfall seines Kolonialreiches und führte in Algerien Krieg. Wie stehen Sie zum Algerienkrieg? War er zu rechtfertigen?

In einem Punkt gebe ich Putin Recht. Ja, der Westen hat den kalten Krieg gewonnen. Dies geschah aus zwei Gründen. Zum einen hat das Modell einer multinationalen Union der sozialistischen Sowjetrepubliken nie wirklich funktioniert. Natürlich wurde Russland als Kolonialmacht, als Fremdherrschaft empfunden. Wenn eine solche Macht Schwäche zeigt, nutzen die kolonialisierten Völker die Gelegenheit und gehen.

Das Problem ist nur – wie schütze ich mich vor dem Zugriff der wiedererstarkenden Kolonialmacht? Ich muss mir starke Verbündete suchen. Einige "Satelliten" und Unionsrepubliken der Sowjetunion fanden die Nato. Wer aber niemanden fand, der ist jetzt verraten und verkauft. Kann es ein stärkeres Argument für die Nato geben? Oder sehen Sie das transatlantische Bündnis als Zwangsgemeinschaft unter der Fuchtel der USA? Warum hat dann nie jemand versucht, aus ihr auszutreten, nicht einmal der selbstbewusste De Gaulle? Nicht einmal die Erdogan-Türkei?

Der Westen hat den kalten Krieg aber noch aus einem anderen Grund gewonnen. Russland hat einfach kein attraktives Gesellschaftsmodell. Dagegen sind viele ethnische Russen in Estland und Lettland mit dem Gesellschaftsmodell der EU durchaus zufrieden und haben keine Lust auf Repatriierung, selbst wenn es ihren jetzt ökonomisch zum Teil schlechter geht als früher in der Sowjetunion. Und die Menschen im Donbass fühlen sich zwar Russland kulturell näher als der Westukraine, aber wenn die Ukraine tatsächlich die Chance hat, sich zu einer funktionierenden Demokratie zu entwickeln - würden sie trotzdem gehen? Oder reicht ihnen für ihre russische Seele nicht Russen-Pop und russischsprachiges Fernsehen?

Die Ostukraine war kein Pulverfass. Wie in Russland waren die Menschen dort auf ihre Alltagsprobleme fixiert. Ihnen war egal, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören. Und jetzt sind sie plötzlich bereit, mit Waffen dafür zu kämpfen? Das kommt sicherlich nicht vom Russen-Pop. Da geht es nämlich immer nur um Liebe.

Frau Krone-Schmalz, mein Beruf dient wie der Ihre der Vermittlung, dem Verstehen, dem Dialog. Und als glühender Verehrer der russischen Kultur kann ich nur sagen: von dieser politischen Führung in Russland werden alle Ideale dieser Kultur in den Schmutz getreten - Tolstojs Pazifismus, Dostoevskijs Verantwortungsgefühl, Čechovs Aufrichtigkeit, Puškins Europäismus, Turgenevs Solidarität mit den kleinen Leuten, Gogols Moralismus…

Großrussischen Nationalismus und gekränkte Großmachtattitüde kann ich hier dagegen niemandem vermitteln und will es auch nicht. Russland steht für mich für andere Werte. Diese Werte zu propagieren, das und nur das heißt für mich Russland verstehen.

Mit freundlichen Grüßen,

Matthias Freise

Dies ist eine für n-tv.de leicht gekürzte Version des Offenen Briefes an Gabriele Krone-Schmalz. Zuerst erschien der Text auf dem Blog Dialogical Humanities der Universität Göttingen.

Quelle: ntv.de

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