Politik

Auf dem Weg zu Olympia ertrunken Wenn Flüchtlinge träumen

Kinder im Flüchtlingslager Kawergosk im Nordirak.

Kinder im Flüchtlingslager Kawergosk im Nordirak.

(Foto: picture alliance / dpa)

Wer sind die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben riskieren? Comiczeichner Reinhard Kleist nähert sich dem komplexen Thema an. Er erzählt von Kindern in einem Flüchtlingscamp und einer Olympiateilnehmerin, die im Mittelmeer ertrinkt.

Viel gibt es nicht in Kawergosk, einem Flüchtlingslager der Vereinten Nationen im Nordirak. Tausende Menschen leben hier oder besser: fristen hier ihr Dasein, in engen Zelten mit notdürftigen sanitären Anlagen. Wenn sie auf die Toilette gehen, müssen sie eine Kanne mitnehmen, zum Nachgießen. Diese Menschen haben alles verloren. Sie sind aus Syrien oder anderen Teilen des Iraks geflohen, um dem Terror des Islamischen Staats zu entgehen. Ihre Zukunft ist ungewiss, gerade die der Kinder.

Ein Junge verarbeitet in seiner Zeichnung seine Erfahrungen mit Krieg und Gewalt (Seite aus dem Heft zum Gratis Comic Tag).

Ein Junge verarbeitet in seiner Zeichnung seine Erfahrungen mit Krieg und Gewalt (Seite aus dem Heft zum Gratis Comic Tag).

(Foto: © Reinhard Kleist_arte.tv / refugees, 2014)

Die Stifte, die Reinhard Kleist mitgebracht hat, sind da vermutlich schon eine kleine Sensation. Der Berliner Zeichner hat das Lager im vergangenen Jahr für fünf Tage besucht, in Zusammenarbeit mit dem Sender Arte, der eine Dokumentation darüber drehte. Seine Eindrücke hat er in einer Comicreportage festgehalten, die nun zum Gratis Comic Tag als kostenloses Heft erscheint (siehe Kasten). Auf 20 Seiten schildert Kleist darin den Alltag der Flüchtlinge und ihre Unterbringung. Er entdeckt beklemmende, aber auch inspirierende Details in dem Lager, trifft etwa ein Mädchen, das nicht spricht, aber zum Zeichenstift greift und ihn malt.

Kinder zeichnen den Krieg

Gratis Comic Tag 2015

Am 9. Mai veranstalten Comicverlage und -händler sowie Buchläden den Gratis Comic Tag. Kostenlos verteilt werden 34 verschiedene Comichefte mit 32 bis 52 Seiten. Die Palette reicht von Kinder- und Abenteuercomics über Graphic Novels und Mangas bis zu Superhelden-Storys, mal als abgeschlossene Geschichte, mal als Leseprobe. Einen Überblick über die angebotenen Hefte, die fast 250 beteiligten Händler im deutschsprachigen Raum, Signierstunden, Lesungen und weitere Veranstaltungen gibt es hier.

Der vielfach preisgekrönte Zeichner, der mit Biografien über Johnny Cash und Fidel Castro bekannt wurde, veranstaltete auch einen Workshop mit Kindern aus dem Flüchtlingscamp: Sie zeichneten Bilder, in denen sie ihre Heimat beschrieben, die sie verlassen mussten, oder stellten gute und schlechte Seiten des Camps dar. Dabei verarbeiteten einige der Kinder auch ihre Erfahrungen von Mord und Totschlag, von Krieg und Elend, die sie in jungen Jahren erlebt haben. Etliche dieser Zeichnungen sind in dem Gratis-Heft abgedruckt.

Kleist schneidet mit dem Heft einen wichtigen Punkt in der Diskussion um Flüchtlinge an. Denn bei der deutschen Diskussion um Flüchtlingsunterkünfte oder die Katastrophen im Mittelmeer wird oft vergessen, auf die Ursachen der Flucht zu schauen. Warum nehmen Menschen den anstrengenden Weg auf sich? Warum riskieren sie ihr Leben? Nur, weil sie sich ein wirtschaftlich besseres Leben erhoffen? Wohl kaum. Sie lassen meist alles zurück: ihre Heimat, ihre Freunde, Häuser und Grundstücke.

Der Zeichner zeigt dies an einem Beispiel, das den Rahmen der Reportage bildet: Eine kurdische Familie, die er in dem Lager traf, floh vor der islamistischen Al-Nusra-Front aus Syrien in den Nordirak. Nur Kleider und Geld konnten sie mitnehmen - ihre Zukunft ist völlig ungewiss. Als Kleist die Familie in Kawergosk trifft, erinnert er sich schließlich an die eigene Familiengeschichte: Auch seine Großeltern und Eltern mussten einst fliehen. Sie stammen aus Pommern, lebten anschließend in Flüchtlingslagern in Lübeck und Friedland. Mit dieser Parallele zeigt er: Flucht ist kein abstraktes Schicksal, das Menschen in entfernten Regionen betrifft - auch viele Familien in Deutschland haben in der Vergangenheit solche Erfahrungen gemacht.

Tod auf dem Weg zu Olympia

In Mogadischu wird Samia von Islamisten bedroht, die nicht dulden wollen, dass eine Frau Sport treibt (Seite aus "Der Traum von Olympia").

In Mogadischu wird Samia von Islamisten bedroht, die nicht dulden wollen, dass eine Frau Sport treibt (Seite aus "Der Traum von Olympia").

(Foto: © Reinhard Kleist / Carlsen Verlag, Hamburg 2015)

Kleist beschäftigt sich schon länger mit dem Flüchtlings-Thema. 2012 reiste er etwa mit Unterstützung des Goethe-Instituts nach Sizilien (hier sein Reiseblog) und traf eine Aktivistin, um mit ihr über die Lage der Flüchtlinge in Italien zu sprechen. Auf der Suche nach einer Idee, wie er die Thematik in einem Comic aufgreifen könne, stieß er schließlich auf die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Er erzählte sie zunächst als Comicstrip-Serie, nun liegt sie auch als Buch vor: "Der Traum von Olympia".

Die 1991 geborene Frau aus Somalia nahm 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teil. Über die 200 Meter hatte sie zwar keine Chance gegen ihre Konkurrentinnen - auch weil sie keine professionellen Schuhe und Kleidung hatte. Doch ihren Traum von einer Profikarriere gab sie nicht auf. Allerdings lag dieser Traum in weiter Ferne: In der somalischen Hauptstadt Mogadischu, wo Samia lebte, gab es nur eine zerbombte Laufbahn, in einem Stadion, in dem früher Massenhinrichtungen stattfanden. An ein professionelles Training war nicht zu denken. Zudem wurde Omar massiv von islamistischen Milizen bedroht, denen Sport treibende Frauen ein Dorn im Auge sind.

Das Heft ist zum Gratis Comic Tag am 9. Mai bei teilnehmenden Händlern erhältlich. "Der Traum von Olympia" ist bei Carlsen erschienen, 152 Seiten im Hardcover, 17,90 Euro.

Das Heft ist zum Gratis Comic Tag am 9. Mai bei teilnehmenden Händlern erhältlich. "Der Traum von Olympia" ist bei Carlsen erschienen, 152 Seiten im Hardcover, 17,90 Euro.

Also verließ Omar schweren Herzens ihre Heimat, ging erst nach Äthiopien und machte sich dann über den Sudan und Libyen auf den Weg nach Europa, um ihren Traum zu verwirklichen: eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in London 2012. Doch ihr Ziel erreichte sie nicht: Sie ertrank vor der italienischen Küste, als sie mit einem Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer unterwegs war.

Kleist erzählt diese dramatische Fluchtgeschichte in düsteren Schwarz-Weiß-Bildern, die er allerdings mit Grautönen mischt. Er setzt auf Stimmungen statt auf Worte. Erneut erweist er sich als großartiger Zeichner, der ein Gespür für Gestik und Mimik seiner Protagonisten hat. Stets spiegeln sich etwa Verzweiflung, aber auch immer wieder Hoffnung im Gesicht von Samia. Allerdings sind die Bilder diesmal weniger expressiv als in seinem letzten Buch über einen Boxer, der in Auschwitz um sein Leben kämpfen muss. Die Zeichnungen wirken zärtlicher, die Figuren zerbrechlicher.

Kleist kann sich seiner Hauptfigur natürlich nur annähern. Unklar ist, was genau Samia auf ihrem langen Weg von Mogadischu bis zu ihrem Tod im Mittelmeer erlebte. Der Zeichner behebt dieses Problem, indem er etwa fiktive Facebook-Einträge von Samia zeigt, in denen sie von ihren Strapazen und Gefühlen spricht. Darüber hinaus hat Kleist aber auch mit Samias Schwester gesprochen, hat im Internet recherchiert und in Frankreich Somalier mit ähnlichen Schicksalen interviewt. So ist "Der Traum von Olympia" nicht nur die Geschichte von Samia Yusuf Omar, sondern verdeutlicht das Schicksal unzähliger Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben lassen.

"Der Traum von Olympia" bei Amazon bestellen.

Quelle: ntv.de

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