Talk bei "Anne Will" Wie antisemitisch ist Deutschland?
29.01.2018, 07:09 Uhr
Wills Gäste, von links nach rechts: Julius H. Schoeps, Sawsan Chebli, Wenzel Michalski, Esther Bejarano und Monika Grütters.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
Zwischen 15 und 20 Prozent aller Deutschen sollen antisemitische Ansichten haben. Wie kann das sein bei einem Volk, das den Massenmord an sechs Millionen Juden zu verantworten hat?
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreit, haben die Nationalsozialisten bereits mehr als eine Million Menschen in dem Vernichtungslager ermordet, die allermeisten von ihnen Juden. Angesichts der ungeheuren Dimensionen des Massenmordes wird Auschwitz für die kommenden Generationen zu einem Symbol für den Holocaust. Doch 73 Jahre nach der Befreiung ist rechtes Gedankengut zunehmend wieder salonfähig - drohen die Schrecken des Nationalsozialismus in Vergessenheit zu geraten?

Esther Bejarano (r.) hält die Erinnerung an den Schrecken von Auschwitz hoch.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
In Anne Wills Studio nehmen am Sonntagabend der Historiker Julius H. Schoeps, die Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement Sawsan Chebli, der Direktor von Human Rights Watch Wenzel Michalski, CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters und die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano Platz, um darüber zu reden, ob die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben.
Die erste halbe Stunde gehört dabei Esther Bejarano. Die 93-Jährige ging gleich in mehreren Konzentrationslagern durch die Hölle des Holocaust und überlebte das Massenmorden unter anderem, weil sie sich in das Mädchenorchester des KZ schmuggelte - obwohl sie bis dato nicht einmal Akkordeon spielen konnte. Eindrücklich schildert Bejarano die Situation in den Lagern und geht dabei auch in die schmerzhaften Details. Dass sie dabei keinen großen Unterschied zwischen der NS-Zeit und der Situation im heutigen Deutschland macht, erschreckt zunächst: "Ich bin der Meinung, dass Deutschland immer antisemitisch war. Dass sich daran nicht viel geändert hat."
"Kollektive Bewusstseinskrankheit"
Tatsächlich haben zwischen "15 und 20 Prozent" der Deutschen laut Studien "antisemitische Ansichten", bestätigt Julius H. Schoeps. Das sei zwar im europäischen Vergleich "etwa im Mittelfeld", aber deswegen lange noch kein Grund zum Aufatmen. Für den Historiker ist Antisemitismus eine "kollektive Bewusstseinskrankheit". Wenzel Michalski weiß, wovon der Mann spricht: Der Sohn des Direktors von Human Rights Watch musste seine Schule in Berlin verlassen, weil er dort wegen seines jüdischen Glaubens gemobbt wurde - "von Kindern türkischer und arabischer Abstammung, wie ich leider dazu sagen muss."
Dass der neue Antisemitismus vor allem von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeht, möchte Sawsan Chebli so nicht stehen lassen: "90 Prozent aller antisemitischen Delikte wurden im vergangenen Jahr von Rechtsradikalen begangen", zitiert die Berliner Staatssekretärin eine Statistik, räumt aber ein, dass der Zuzug von Geflüchteten dennoch eine Herausforderung sei, "weil diese Menschen auch in einem anderen Umfeld sozialisiert sind." Ein unbequemes Thema, das leider etwas zu kurz kommt, weil sich die Diskussionsteilnehmer gut zehn Minuten lang mit der Frage aufhalten, ob der Besuch einer KZ-Gedenkstätte verpflichtend sein sollte. "Nein", befindet Bejarano schließlich.
Genau wie die 93-Jährige glaubt auch Historiker Schoeps an einen anderen Ansatz bei der Erinnerungskultur. Man könne ohnehin niemals alle Menschen erreichen, sondern sollte um die Grenzen der Aufklärung wissen. "Andererseits haben wir kein anderes Mittel als die Aufklärung." Und oft genug fruchtet sie ja auch, ist Bejarano überzeugt. Zum Beispiel dann, wenn nach Vorträgen junge Menschen zu ihr kämen und sagten: "Sie brauchen keine Angst zu haben: Wenn Sie mal nicht mehr sind, werden wir Ihre Geschichte weiter erzählen." Und genau darum geht es ja am Ende des Tages.
Quelle: ntv.de