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Hunger nach Afghanistan-Beben "Wir müssen sogar Witwen mit Kindern abweisen"

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Nach dem Erdbeben am vergangenen Samstag sind etliche Afghanen in Zelten untergebracht.

Nach dem Erdbeben am vergangenen Samstag sind etliche Afghanen in Zelten untergebracht.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Afghanistan erlebt die nächste Katastrophe. Ein Erdbeben in der Provinz Herat tötet knapp 2500 Menschen. Im Interview mit ntv.de schildert der Deutschland-Chef des Welternährungsprogramms, Martin Frick, die Lage und erklärt, inwiefern dies eine neue Fluchtwelle auslösen könnte.

Dr. Martin Frick ist seit November 2021 Direktor des Welternährungsprogramm Deutschland.

Dr. Martin Frick ist seit November 2021 Direktor des Welternährungsprogramm Deutschland.

(Foto: IMAGO/Political-Moments)

ntv.de: Herr Frick, nach einem Erdbeben in der Provinz Herat, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, soll es knapp 2500 Tote gegeben haben und fast ebenso viele Verletzte. Sie sind als Welternährungsprogramm vor Ort und helfen. Wie stellt sich die Lage aus Ihrer Sicht dar?

Martin Frick: Das Ausmaß haben wir noch gar nicht richtig erfasst, aber man muss von einer Katastrophe ausgehen. Es ist eine weitere Tragödie, die Afghanistan zusätzlich zu all den anderen Tragödien heimgesucht hat. Das Erdbeben ereignete sich in einer abgelegenen Gegend, die mit Fahrzeugen schlecht zu erreichen ist. Auch die Kommunikation ist miserabel, weil die Infrastruktur dafür zerstört wurde. Wir wissen, dass die Opferzahlen weiter steigen. Wir konnten bereits die ersten 1,5 Tonnen Lebensmittel an 700 Familien verteilen. Wir haben in Herat auch noch Lebensmittel gelagert. Damit können wir 15.000 Familien zwei bis drei Monate ernähren.

Das klingt nicht nach unmittelbarer Katastrophe.

Da täuschen Sie sich. Was wir als Soforthilfe verteilen, das sind Hochenergie -Riegel. Das ist die allerunterste Stufe, um die Menschen irgendwie am Leben zu erhalten. Viele Menschen sind durch die Beben obdachlos und der harsche Winter wird länger dauern als zwei bis drei Monate.

Wie real ist die Gefahr einer Hungersnot?

Die Gefahr einer Hungersnot ist extrem real. Wenn der Winter kommt, werden viele Dörfer abgeschnitten sein. Bei Schneefall kommen wir in diese Bergdörfer nicht mehr hinein. Wenn wir also Lebensmittel für die kommenden Monate einlagern wollen, muss das jetzt passieren. Es ist wirklich dramatisch. Das Erdbeben fällt in eine Zeit, in der Afghanistan in extremer Bedrängnis ist und wir als Welternährungsprogramm extrem unterfinanziert sind.

Was heißt das?

Auf alle weltweiten WFP-Einsätze gerechnet, haben wir mit 60 Prozent die größte Finanzierungslücke unserer 60-jährigen Geschichte. Die Krisen werden immer mehr. Wir haben auf der Welt doppelt so viele Kriege wie vor zehn Jahren. Jetzt kommt nach dem Hamas-Terror der Gaza-Streifen hinzu, wo wir unsere Hilfe ausweiten müssen. Wir warten nur auf sicheren Zugang. Manchmal habe ich den Eindruck, wir laufen mit einem kleinen Feuerlöscher um die Welt und der wird immer leerer.

Was hat das für Folgen in Afghanistan?

Wir gehen davon aus, dass bereits jetzt 15 Millionen Menschen Hunger leiden. Im vergangenen Jahr haben wir in Afghanistan 23 Millionen Menschen ernährt, das ist die Hälfte der Afghanen. Anfang des Jahres waren es nur noch 13 Millionen. Vor dem Erdbeben mussten wir die Hilfe für weitere 10 Millionen Menschen einstellen. Das heißt, wir erreichen jetzt nur noch drei Millionen. Das ist das absolute Minimum. Wir müssen mittlerweile selbst Menschen abweisen, die unter allen humanitären Gesichtspunkten Priorität hätten. Teilweise sogar Witwen mit kleinen Kindern. Die wollen wir eigentlich noch versorgen, wenn sonst niemand mehr etwas bekommt. Manche müssen sich um fünf, sechs oder sieben Kinder kümmern.

Wie viel Geld fehlt Ihnen?

Für die nächsten sechs Monate haben wir nur 11 Prozent der benötigen Gelder. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Als wir im vergangenen Jahr die Hälfte der Menschen in Afghanistan versorgt haben, hat die deutsche Regierung uns 167 Millionen Euro dafür gegeben. Für dieses Jahr wurden uns 25 Millionen zugesagt und das Geld ist noch nicht vollständig geflossen. Das Erdbeben und auch das Nachbeben in dieser Woche treffen auf eine extrem verwundbare Bevölkerung, die überhaupt keine Reserven mehr hat.

Wie entwickelt sich die Spendenbereitschaft der Deutschen?

Die Deutschen sind sehr zuverlässige Spender und das Geld ist sehr willkommen und wird dringend benötigt. Als Welternährungsprogramm sind wir aber ganz wesentlich von staatlichen Gebern abhängig. Die Bundesregierung ist dabei ein zuverlässiger Geber, der zweitgrößte weltweit nach den USA.

Deutschland, die EU und auch die Vereinten Nationen haben zusammen schon 14 Millionen Euro Soforthilfe angekündigt, die USA zudem 12 Millionen Dollar. Wie weit kommt man damit?

Nicht sehr weit, denn die Not ist einfach so groß. Vom Auswärtigen Amt haben wir für 2023 bisher fünf Millionen Euro bekommt. Um das einzuordnen, wir benötigen allein 400 Millionen US-Dollar, um die Winterhilfe für sieben Millionen Menschen zu organisieren. Wir müssen daher die Rationen kürzen und verteilen nur noch das absolute Minimum an weniger Menschen. Aber es reicht trotzdem hinten und vorne nicht. Wir machen uns größte Sorgen, was passiert, wenn der Winter einbricht und wir an die Dörfer überhaupt nicht mehr herankommen. Außerdem hat unsere Schwesterorganisation etliche Erdbebenopfer in Zelten untergebracht, die darin bei minus 10 Grad Außentemperatur nicht überwintern können. Das ist absolut unangemessen.

Viele Hilfsorganisationen haben nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen. Das Regime ist mit der Hilfe hoffnungslos überfordert. Stehen die Ihnen noch im Weg?

Das nicht. Sie treffen problematische Entscheidungen, die unsere Arbeit oft vor Herausforderungen stellt, aber sie lassen uns grundsätzlich helfen.

Haben Sie denn die nötige Infrastruktur, um Hilfe zu organisieren?

Absolut, unsere Hilfe hat vergangenes Jahr die Hälfte der afghanischen Bevölkerung erreicht. Es gibt genug Getreide und andere Lebensmittel auf dem Weltmarkt. Wir haben nur nicht genug Geld, um diese anzukaufen und unsere Operation am Laufen zu halten. Die Schere zwischen dem Bedarf und dem, was wir haben, geht immer weiter auf. Wir haben so viel gekürzt, dass wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Und Lebensmittel sind 30 Prozent teurer als 2019.

Als 2015 und 2016 viele Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern nach Deutschland kamen, war eine Ursache, dass das Welternährungsprogramm nicht genug Geld hatte, um sie in den Lagern im Libanon und anderswo zu versorgen. Droht jetzt eine neue Fluchtwelle aus Afghanistan?

Natürlich steigt durch Elend der Migrationsdruck. Auf der anderen Seite versorgen wir Menschen, die überhaupt nicht mobil sind. Die Witwe mit den kleinen Kindern wird sich nicht auf den Weg machen. Diejenigen, die jung und stark sind, sind wahrscheinlich schon längst losgezogen.

Weil sie auch ohne Erdbeben keine Perspektive im Land sahen?

Ja. Afghanistan ist ein Land, dem nichts erspart bleibt. Nach Jahrzehnten des Krieges ist es verwüstet. Aber es ist auch ein Land, das mit am stärksten vom Klimawandel betroffen ist. Landwirtschaftliche Produktion ist kaum möglich. Die De-facto-Regierung findet keine Lösungen. Die Menschen dort erleben alles, was an schrecklichen Dingen passieren kann. Jetzt auch noch das Erdbeben.

Mit Martin Frick sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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