Merkels Memoiren Wirklich "eine der bedeutendsten Staatenlenkerinnen unserer Zeit"?
14.05.2024, 19:44 Uhr Artikel anhören
Ex-Kanzlerin Angela Merkel am Montag auf dem Weg zur Abschiedsfeier für den grünen Bundestagsabgeordneten und Ex-Minister Jürgen Trittin, den sie in einer Rede würdigte.
(Foto: picture alliance/dpa)
Angela Merkel legt im Herbst ihre Memoiren vor. Auch wenn aus dem Inhalt noch nichts bekannt ist außer ein paar PR-Brocken: Deutschland kann sich freuen: "Freiheit", so der Titel, wird endlich mal wieder ein Schriftstück sein, über das man leidenschaftlich debattieren wird.
In Zeiten wie diesen kommt es bekanntlich auf jedes einzelne veröffentlichte Wort an. Man ahnt, dass die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihr Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) an der Pressemitteilung zum Erscheinen ihrer Memoiren am 26. November lange gefeilt haben, bis mit dem Wortlaut alle zufrieden waren. Die Kunst dabei war: neugierig machen, ohne groß etwas zu verraten. Tiefsinnigkeit versprechen, aber an der Oberfläche bleiben. Heraus kamen PR-Sätze, die eines altehrwürdigen Verlagshauses wie Kiepenheuer & Witsch nicht unbedingt würdig sind. "Natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren." Na, wer hätte das gedacht?
Die Schauspielerin Corinna Harfouch, geboren im thüringischen Suhl, wird das Hörbuch zu den Memoiren der Ex-Kanzlerin, aufgewachsen im brandenburgischen Templin, einsprechen. Eine Ex-DDR-Bürgerin, die auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten, liest die Biografie einer Ex-DDR-Bürgerin, die auf der politischen Bühne stand, die die freie Welt bedeuten. Zwei ostdeutsche Frauen, die es geschafft haben, unter sich - von wegen Westdominanz! Man hat auch daran gedacht.
Und doch wird "Freiheit", so der Titel der Autobiografie, für Streit sorgen und polarisieren, wie es schon ewig kein zuerst in Deutschland erschienenes Buch mehr getan hat, schon gar nicht Erinnerungen einer Politikerin oder eines Politikers. Die Brisanz steckt in einer Aussage von Kerstin Gleba, der Verlegerin von Kiepenheuer & Witsch. Sie verkündet auf der KiWi-Webseite zu Merkels Memoiren: "Sie bieten tiefe Einblicke in das Denken und Handeln einer der bedeutendsten Staatenlenkerinnen unserer Zeit und sind ein großer Gewinn für die Leserschaft weltweit."
Ob Gleba ihr Lob tatsächlich nur - vielleicht bestand Merkel darauf - auf Frauen bezogen oder den Genderstern, wie er in der Verlagswelt üblich ist, vergessen hat, sei dahingestellt. So oder so: Über die Einschätzung, die Christdemokratin sei eine "der bedeutendsten Staatenlenkerinnen unserer Zeit", wird spätestens seit dem 22. Februar 2022 diskutiert, als Russland die Ukraine überfiel und Deutschland merkte, dass es von Putins billigen Energierohstoffen abhing. Eine Folge der Außen- und Wirtschaftspolitik unterschiedlicher Bundesregierungen unter 16-jähriger Führung Merkels.
Nicht zuletzt deshalb werden die Lebenserinnerungen der Ex-Kanzlerin die Debatte über ihr politisches Vermögen oder Unvermögen befeuern. Ein Blick auf den Bücherherbst zeigt, dass das Urteil von KiWi-Chefin Gleba nicht alle teilen. Von Klaus-Rüdiger Mai kommt Ende Oktober im Europaverlag "eine kritische Biografie" mit dem Titel: "Angela Merkel: Zwischen Legende und Wirklichkeit." In der Ankündigung werden "Missstände" genannt, deren Ursache der ostdeutsche Autor "in der viel zu langen Kanzlerschaft Frau Merkels" sieht: Die "desaströse Energiewende, die Abhängigkeit von Russland, die verfehlte Migrationspolitik, den Abbau von Demokratie, Freiheit, die Einschränkung der Bürgerrechte, das Leben von der Substanz ohne Werterhaltung, den Zusammenbruch des Gesundheitswesens, der öffentlichen Sicherheit und der Infrastruktur".
"Ihr fehlten die Ideen" für die Zukunft des Landes
Mitte September erscheint bei dtv "Die Täuschung: Angela Merkel und ihre Deutschen" von Eckart Lohse, Leiter der Berliner Politikredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Seiner - bekannten - These zufolge ist "Merkels Politik auf vielen Feldern gescheitert: Russland, Energieversorgung, Verteidigung, Integration". Auch die bisher missratene Energiewende kreidet der Journalist, ein Westdeutscher, der früheren Regierungschefin an. Seine Erkenntnis gibt der Verlag so an: "Anpassung um des Machterhalts willen hat das Regierungshandeln der Ostdeutschen geprägt. Ihr fehlten die Ideen, das Land in die Zukunft zu führen."
All das ist nicht neu. Der Vorwurf der Machtversessenheit als die Antriebskraft ihres politischen Schaffens begleitete Merkel ihre gesamte Regierungszeit. Dass sie von der Agenda 2010 ihres Vorgängers Gerhard Schröder profitierte, die sie noch als Oppositionsführerin im Bundesrat blockiert hatte, wie und wo es nur ging, und dann in 16 Jahren nichts von vergleichbarer Reformfreudigkeit hinbekam, ist inzwischen Allgemeinwissen. Auffällig ist, dass Kritik an Merkel in jüngerer Vergangenheit vor allem aus dem (rechts-)konservativen Lager kommt - auch aus der CDU, von der sich die Ex-Kanzlerin immer mehr zu lösen scheint.
Den Christdemokraten zeigt sie seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft bevorzugt den Rücken, was wohl vor allem mit ihrer Feindschaft zum amtierenden CDU-Chef Friedrich Merz zusammenhängt. Die Verärgerung in der CDU ist unüberhörbar. Erst recht, nachdem sie den jüngsten Parteitag sausen ließ, um, wie es Armin Laschet als alter "Merkelianer" in der "Süddeutschen Zeitung" erklärte, an ihren Memoiren zu feilen. Wenige Tage später jedoch beglückte sie den Alt-Grünen Jürgen Trittin bei dessen offiziellem Abschied aus dem Bundestag mit einer Rede. Spannend wird sein, ob sie diese (scheinbare) Entfremdung zur CDU in ihrem Buch bestätigt oder als Hirngespinst einer ihr nicht wohlgesinnten Journaille abtut.
Mit noch mehr Spannung wird die Antwort auf die Frage erwartet, wie Merkel in ihren Aufzeichnungen mit Merz umgeht, ob sie ihm seinen Traum von der Kanzlerschaft doch noch vermasseln könnte, indem sie den CDU-Vorsitzenden - womit auch immer - bloßstellt und/oder dumm aussehen lässt. Die Macht dazu hätte sie: Denn ihre Glaubwürdigkeit dürfte in der deutschen Bevölkerung nach wie vor größer sein, als es die von Merz ist. Merkel ist niemand, die schmutzige Wäsche wäscht. Aber sie weiß sehr wohl, wie eine Waschmaschine funktioniert. Ihr Verhältnis zu Merz kann sie in den Memoiren nicht umschiffen. Auch weil die Öffentlichkeit darauf wartet, so spektakulär und lesenswert all die Passagen zu Kindheit, Jugend, Einstieg in die Politik, Helmut Kohl und Auftritten auf internationalem Parkett auch sein mögen.
Wird Merkel Ross und Reiter benennen?
Ebenso hochinteressant wird sein, ob sich Merkel - ihrem politischen Ziehvater Helmut Kohl folgend - dem Versuch erliegt, in Selbstgerechtigkeit und -beweihräucherung zu baden. Einen Hang dazu hat sie immer wieder öffentlich dokumentiert, jüngst vor allem in der Russland-Debatte. "Ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen." Diese Haltung wird sie - ebenso wie ihr Handeln in der Flüchtlingskrise - in der Autobiografie ausführlich begründen müssen. Da wird es nicht reichen, nur die Frage zu stellen, "was man vielleicht versäumt" habe, wie sie es Monate nach Putins Einfall in die Ukraine tat. "Man" ist bekanntlich Merkels Lieblingswort, wenn es ihr darum geht, eigene Verantwortung in das Reich der Allgemeinheit oder des nicht genau zu Benennenden zu schieben.
Man (!) darf Hoffnung haben, dass Merkels Memoiren keine Ansammlung von "mans" sein wird, sie Ross und Reiter nennt und den Mut hat, Versäumnisse und Fehler einzuräumen. Was immer sie schreibt, wie immer Leserinnen und Leser die Ausführungen bewerten werden: In jedem Fall kann sich Deutschland, das Land, in dem der Buchdruck erfunden wurde, auf den 26. November 2024 freuen. "Freiheit" wird endlich mal wieder ein Buch sein, über das leidenschaftlich debattiert werden wird.
Quelle: ntv.de