Politik

"Will"-Talk zu Chemnitz Woher kommt die Wut in Sachsen?

Am Ende landet die Runde bei Anne Will doch wieder beim Thema Flüchtlinge.

Am Ende landet die Runde bei Anne Will doch wieder beim Thema Flüchtlinge.

(Foto: NDR)

Spätestens seit den Ausschreitungen in Chemnitz in der vergangenen Woche ist klar: Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus. Ministerpräsident Kretschmer möchte bei Anne Will jedoch lieber über Flüchtlinge sprechen.

Nach dem gewaltsamen Tod eines 35-jährigen Deutschen kommen am vergangenen Montag Tausende Menschen zu Protesten nach Chemnitz. Unter den Demonstranten sind auch Hooligans und Neonazis, angereist aus ganz Deutschland. Demonstranten rufen "Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!" und zeigen den Hitler-Gruß. Die Polizei unterschätzt die Lage, vor Ort sind viel zu wenig Beamte. Es kommt zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen. 

Vor diesem Hintergrund ist es kein leichter Start in die Runde bei Anne Will für den CDU-Politiker und sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Bei allem, was vergangene Woche passiert sei, "wie können Sie da behaupten, der Staat habe uneingeschränkt das Gewaltmonopol inne gehabt?", fragt Will. Kretschmer erwidert, seine Regierung sei überrascht worden "wie dieses Internet funktioniert. Diese Mobilisierung, das ist etwas Neues." Weder Will noch der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Olaf Sundermeyer wollen ihm das abnehmen. Der Ministerpräsident legt trotzig nach: Er findet es unerhört, dass sie über Sachen philosophierten, von denen sie die Fakten gar nicht kennen könnten. Dass es in der Sendung genau darum gehen soll, ist Kretschmer offenbar entgangen.

Die SPD-Politikerin und sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, Petra Köpping, leistet Kretschmer Schützenhilfe und betont, dass die Probleme nur im Dialog mit der Bevölkerung angegangen werden können. Das sei in den letzten zwei Jahren durch zahlreiche Bürgerdialoge in Sachsen immer wieder geschehen. Wenn man den Menschen zuhöre und Zeit gebe, gehe es dann auch immer nur zu Beginn der Gespräche um das Thema Flüchtlinge. Köpping spricht von Verletzungen und Demütigungen: Die Menschen hätten das Gefühl, nicht gehört zu werden. "Nach der Wende waren die Menschen euphorisch und viele wurden bitter enttäuscht." Ministerpräsident Kretschmer pflichtet ihr bei: "Wir müssen Orte abseits der Rechtsextremen schaffen, an denen Menschen auch ihren Unmut und ihren Ärger loswerden können."

Auch der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse von der SPD stimmt Köpping zu und betont zusätzlich die Bedeutung von individuellem Bürgerengagement. "Wenn der Hitler-Gruß gezeigt wird, dann muss ich als anständiger Sachse weggehen - auch wenn ich wütend bin." Petra Köpping betont, dass Pauschalisierungen ebenfalls maßgeblich zu dem Problem beitrügen. In Sachsen habe man immer gesagt: Wenn man gegen rechts ist, dann ist man links. "Für mich ist man, wenn man gegen rechts ist, einfach für die Demokratie", so Köpping.

"Wir tappen in die Falle der Rechtsextremen"

Der Kabarettist und Autor Serdar Somuncu antwortet auf Wills Frage nach seinen Erfahrungen mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland mit einem fünfminütigen Referat voller Statistiken und Plattitüden. Der Kabarettist fragt, warum die AfD nicht gerade jetzt glaubhaft demonstriere, dass sie gegen rechts sei. "Aber die AfD demonstriert doch derzeit mit den Rechtsextremen", ruft Thierse leicht verdutzt. 

Und warum finden Rechtsextreme gerade in Sachsen so viel Zustimmung? Kretschmer möchte Fragen nach der politischen Verantwortung seiner Partei, die seit der Wiedervereinigung konstant Teil der sächsischen Regierung ist, nicht beantworten. Er will lieber diskutieren, wie konsequent Deutschland bei Rückführungen von Flüchtlingen in Zukunft sein sollte.

Somuncu springt darauf an und poltert gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Weder Wills Hinweis, dass nicht die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, sondern Rechtsextremismus in Sachsen das Thema der Sendung sei, noch der bemüht diplomatische Wolfgang Thierse - "wir tappen in die Falle der Rechtsextremen, wenn wir jetzt diskutieren, ob Flüchtlinge das eigentliche Problem sind" - können Somuncu stoppen. Sein Vortrag gipfelt in der Aussage, die Willkommenskultur sei "genauso extrem wie die Ausländerfeindlichkeit der Rechten". Die anderen Gäste und die Moderatorin nehmen diese Aussage überraschend stoisch hin. 

Angst vor Veränderung?

Auf die Frage nach der politischen Verantwortung der CDU für die Etablierung einer großen rechtsextremen Szene in Sachsen kommt die Runde nicht mehr zurück. Die Diskussion bleibt beim Thema Flüchtlinge - genauer gesagt beim Thema "gescheiterte Integration". Journalist Sundermeyer warnt jedoch vor einer "Verquickung" der Diskussion über Integrationsprobleme und Gewalttaten von Flüchtlingen. Das sei genau das, was die Rechtsextremen wollten. Sie instrumentalisierten Chemnitz für ihre eigenen Zwecke. "Wir dürfen diesen Leuten nicht auf den Leim gehen und müssen politische Lösungen für gescheiterte Integration finden."

Zum Ende der Sendung bringt Kretschmer die Diskussion doch noch einmal zurück nach Sachsen. Er wünsche sich von den Chemnitzern eine andere Art der Empörung, eine Empörung über das derzeitige Bild ihrer Stadt: "Ich möchte, dass die Menschen in Chemnitz aufstehen und sagen: So sind wir nicht!." Somuncu wünscht sich Toleranz und einen respektvollen Umgang und Köpping glaubt, dass die "noch sehr junge ostdeutschen Demokratie" ganz besonders Orte brauche, an denen sich die Bürger demokratisch beteiligen könnten.

Das Schlusswort der Sendung hat Wolfgang Thierse. Er glaubt, dass die Menschen Angst vor den weitreichenden Veränderungen haben, die die Welt gerade aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung durchmache. Flüchtlinge seien nur der greifbarste Teil dieser Veränderung. "Für diese Herausforderungen gibt es keine einfachen, wunderbaren Lösungen", so Thierse. Es sei die Aufgabe der Bürger - mehr als die der Politiker - diese Auseinandersetzung unter dem "Leitwort Respekt" zu führen. 

Quelle: ntv.de

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