Vorhergesagte Katastrophe Die EU verurteilt, das Mittelmeer vollstreckt
19.04.2015, 14:32 Uhr
Die Leichen verstorbener Migranten werden im August 2014 an Land gebracht.
(Foto: REUTERS)
In nur einer Woche sterben mehr als 1000 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Diese Katastrophe war absehbar und wurde bewusst in Kauf genommen. Und sie wird weiter gehen.
Rund 700 Menschen sind in der Nacht zum Sonntag wohl im Mittelmeer ertrunken. Sechs Tage zuvor war bereits ein Schiff untergegangen, etwa 400 der Passagiere wurden nicht gerettet. Diese Nachrichten bestürzen, aber überraschend sind sie nicht. Im Oktober 2014 war klar, dass erst einmal eine Zeit mit geringen Opferzahlen folgen würde, im Frühjahr oder Sommer aber wieder viele Menschen sterben würden.
Denn die Flüchtlingsströme gen Europa kommen in Wellen. Im Winter ist das Mittelmeer kühl und das Wetter schlecht. Dann wagen sich nur wenige Menschen auf das Wasser. Im Frühling beginnt für die Schlepper dann die Saison. Zu Hunderten und Tausenden pferchen sie Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten auf die maroden Schiffe und stechen in See. Kein Schlepper hat ein Interesse daran, dass seine Boote untergehen, das verdirbt den Ruf. Aber das eine oder andere untergehende Boot gehört zum einkalkulierten Risiko in dem lukrativen Geschäft.
Zum Ende der Flüchtlingssaison 2013 reagierte die EU mit dem Seenotrettungsprogramm "Mare Nostrum" auf die hohe Zahl ertrunkener Flüchtlinge. Auslöser waren Nachrichten Anfang Oktober 2013, wonach innerhalb weniger Tage 400 Menschen gestorben waren. Italienische Schiffe bekamen kurz darauf den Auftrag, nach Booten in Seenot zu suchen und die Passagiere aufzunehmen. Das Einsatzgebiet erstreckte sich praktisch über alle Gebiete des Mittelmeers, die Flüchtlinge zur Überfahrt nutzen. Für Italien war es ein großer Aufwand, die Schiffe, Hubschrauber und Drohnen bereitzustellen und die aufgegriffenen Flüchtlinge zu versorgen. Bis zu 150.000 Menschen verdanken der Mission ihr Leben.
Erste Todesurteile sind vollstreckt
Allerdings war "Mare Nostrum" von Anfang an auf Zeit angelegt und endete am 31. Oktober 2014. Seitdem kümmert sich die EU-Grenzschutzagentur Frontex wieder um das Mittelmeer. Die bei ihrer Mission "Triton" eingesetzten Schiffe sollen Flüchtlinge davon abhalten, in die EU zu kommen. "'Triton' wird 'Mare Nostrum' weder übernehmen noch ganz oder teilweise ersetzen", sagte Frontex-Chef Gil Arias-Fernández damals. Zwar nehmen sie in Seenot geratene Menschen auf, nach ihnen zu suchen ist aber nicht Teil des Auftrags. Die "Triton"-Schiffe bleiben in der Regel in der Nähe europäischer Küstengewässer – in die es viele Flüchtlinge gar nicht schaffen.
Als "Mare Nostum" beendet wurde, war klar, dass die Auswirkungen nicht sofort spürbar sein würden, die Saison war ja vorbei. Aber dass 2015 viele in Seenot geratene Schiffe nicht mehr entdeckt würden werden, war ebenso klar. Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller sprach von einem "Todesurteil für viele Flüchtlinge". Das Mittelmeer hat die ersten dieser Todesurteile nun vollstreckt.
Die Abgeordneten des Europaparlaments sind sich recht einig darin, dass der aktuelle Zustand nicht tragbar ist. Viele von ihnen wollen "Mare Nostrum" wieder setzen. Es ist auch im Gespräch, in Afrika Anlaufstellen zu schaffen, über die Flüchtlinge in der EU Asyl beantragen können. "Seenotrettung ist wichtig und muss gewährleistet werden. Aber es kann nicht eine vernünftige Asylpolitik ersetzen", sagt Ska Keller n-tv.de "Wir brauchen endlich legale und sichere Zugangswege für Flüchtlinge, damit sie ihr Leben nicht auf dem Mittelmeer riskieren müssen."
Für beides bräuchten die Abgeordneten aber die Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten. Und die wollen bislang nichts an ihrer Politik ändern.
Quelle: ntv.de