
Die Türkei braucht ihrem Präsidenten Erdogan zufolge einen EU-Beitritt "nicht um jeden Preis"
(Foto: AP)
Im EU-Parlament zeichnet sich eine Mehrheit für den Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ab. Dieser Schritt wirkt auf den ersten Blick angemessen. Tatsächlich ist er kontraproduktiv.
Derartige Töne von Recep Tayyip Erdogan, man kann sich das kaum noch vorstellen: Als Istanbul im Jahr 2010 Europäische Kulturhauptstadt wurde, sagte der damalige Ministerpräsident: "In Istanbul kann jede Kultur ihre eigene Identität finden." Die Metropole am Bosporus sei schließlich "Hauptstadt der Freiheit". Erdogan fügte hinzu: "Istanbul hat immer Richtung Europa geschaut und wird immer eine europäische Stadt sein." An jenem Tag schmückte ein Feuerwerk den Himmel über Istanbul, fröhliche tanzende Menschen füllten die Straßen.
Sechs Jahre später haben viele Türken, die anders ticken als Erdogans islamisch-konservative AKP, Angst, sich auf Istanbuls Straßen sehen zu lassen – geschweige denn dort ausgelassen zu feiern. Der Mann, der mittlerweile Präsident des Landes ist, führte strenge Restriktionen für den Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit ein. Er nannte die Gleichberechtigung von Mann und Frau einen "widernatürlichen" Akt. Und er ermunterte seine Anhänger, sich als Sittenpolizei zu gerieren. Etliche Künstler, Journalisten und Intellektuelle sitzen im Gefängnis – weil sie den Präsidenten angeblich beleidigt oder Terroristen unterstützt haben sollen. Und Europa? Das ist Erdogan offensichtlich nicht mehr so wichtig. Erdogan liebäugelt öffentlich mit Russland und China und schreckt nicht davor zurück, Gedankenspiele zur Wiedereinführung der Todesstrafe anzustellen oder den Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, einen "Flegel" zu nennen.
Ist es angesichts des rasanten Verfalls europäischer Werte in der Türkei nicht höchste Zeit, dass die EU ein deutliches Signal sendet? Am besten mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen?
Die Mehrheit des EU-Parlaments scheint genau davon überzeugt. Am Nachmittag wollen die Abgeordneten diese Frage besprechen und am Donnerstag eine entsprechende Entscheidung fällen. Das sich abzeichnende Ja zu einer Pause der Gespräche ist aber nur auf den ersten Blick sinnvoll.
Faktisch sind die Beitrittsgespräche längst ausgesetzt
Die Vertreter einer Unterbrechung der Beitrittsverhandlungen fragen zwar zu Recht: Was hat dieser Prozess bisher gebracht? Trotz etlicher Gespräche und Appelle in den Fortschrittsberichten der EU-Kommission ist das Land schließlich in allen relevanten Indizes von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen abgestürzt.
Wer die Beitrittsgespräche auf Eis legen will, muss sich aber auch fragen: Was passiert, wenn wir uns jetzt von der Türkei abwenden? Nützt es den Journalisten in Haft, den entlassenen Richtern, den Kurden und anderen Minderheiten in der Türkei? Nein. Der Beitrittsprozess ist kein besonders starkes, aber eines der wenigen Druckmittel, die der EU im Umgang mit der Türkei noch verblieben sind.
Wer die Beitrittsgespräche unterbrechen will, muss sich auch fragen: Ist dieser Schritt mehr als ein symbolischer Akt? Faktisch sind die Beitrittsverhandlungen längst ausgesetzt. Außerdem galt für die, die jetzt besonders laut nach einem Stopp rufen, schon immer, dass es bei dem Beitrittprozess eigentlich nicht um den Beitritt, sondern vor allem um den Prozess ging. Die CDU etwa spricht seit Jahren davon, dass für sie eher eine "privilegierte Partnerschaft" mit der Türkei als eine Vollmitgliedschaft infrage kommt.
Ein Abbruch der Gespräche bringt nichts. Im Gegenteil: Der empfindliche Erdogan wird ein solches Signal aus Brüssel als weitere öffentliche Demütigung empfinden – mit dem Risiko, dass produktive Gespräche mit der Führung in Ankara überhaupt nicht mehr möglich sind. Autokraten wie Erdogan neigen zudem dazu, Attacken von außen durch Machtdemonstrationen nach innen zu kontern. Das ist das Letzte, was die fragile Opposition in der Türkei jetzt braucht.
Auch die Überheblichkeit des Westens ermöglichte Erdogans Aufstieg
Selbstverständlich darf die EU dem Treiben Erdogans nicht tatenlos zusehen. Sie muss deutlich Kritik an den Entwicklungen in der Türkei äußern und unverrückbare rote Linien aufzeigen, zur Not auch mit Sanktionen drohen (die weitere Gespräche nicht unmöglich machen). Die EU muss auf ihre Werte pochen, weil sie die türkische Opposition auch dann im Stich lassen würde, wenn sie ihre eigene Integrität aufs Spiel setzt. Die Menschen, die unter Erdogans Unterdrückung leiden, vor allem die, die mutig den Kampf gegen sie aufgenommen haben, brauchen Mitstreiter, die glaubhaft für die gleichen Werte stehen.
Dieser Weg mag zäh und frustrierend sein. Aber die EU würde es sich viel zu leicht machen, wenn sie ihn nicht ginge. Und das auch, weil sie eine nicht zu vernachlässigende Mitverantwortung für die Entwicklungen in der Türkei trägt. Dass Erdogan kein Engel ist, war lange vor 2010 bekannt, als das Land Istanbul als Kulturhauptstadt feierte. Spätestens seit 1998. Damals, bevor Erdogan die AKP schuf und an die Staatsspitze drang, rezitierte er aus einem Gedicht: "Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln sind unsere Helme, die Moscheen sind unser Kasernen." Und er sagte: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind." Erdogan sorgte damit nicht nur für Aufsehen, sondern saß dafür auch im Gefängnis, wurde gar zu einem lebenslangen Politikverbot verurteilt. Die Zitate und ihr Kontext lassen sich zwar unterschiedlich auslegen und bewerten, doch dass ein gewisser Islamismus in Erdogans Weltsicht eine Rolle spielt, war unabhängig davon nie ein Geheimnis.
In Europa ignorierten das viele. Zum Teil in der naiven Hoffnung, Erdogan könnte ein konfessioneller Brückenbauer zwischen Ost und West sein. Sie ließen sich zudem vom rasanten wirtschaftlichen Aufstieg in der Türkei blenden – weil sie auf Realpolitik setzten oder schlicht opportunistisch waren.
Andere, jene, die Erdogan kritisierten und sich gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU aussprachen, taten das wiederum in einem Duktus, in dem allzu oft auch religiöses und kulturelles Ressentiment mitschwangen. Erdogan wusste dies zu nutzen. Die Überheblichkeit des Westens trug dazu bei, dass Erdogan sich in der Türkei eine so derart große Anhängerschaft aufbauen konnte. Sich ausgerechnet jetzt von der Türkei abzuwenden, wäre deshalb nicht nur kontraproduktiv, sondern auch scheinheilig.
Quelle: ntv.de