Zehn Jahre Hartz IV Sozialstaat ins Museum?
24.11.2014, 11:01 Uhr
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
Hartz IV ist ein inhumanes System, das Menschen erniedrigt und entmündigt. Wenn der Sozialstaat nicht zum Auslaufmodell werden soll, muss die Sozialreform rückabgewickelt werden.
Am 1. Januar 2015 ist das unter dem Kürzel "Hartz IV" bekannte vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zehn Jahre in Kraft. Es hat unsere Gesellschaft tief gespalten, und zwar materiell wie mental. Noch immer scheiden sich an der nach einem früheren VW-Manager benannten Arbeitsmarktreform die Geister: Waren die Hartz-Gesetze nun ein großer Erfolg, wie die Politiker der etablierten Parteien und fast alle Massenmedien beteuern? Und wenn ja, für wen? Gibt es nicht erheblich mehr Verlierer als Gewinner der Reformpolitik, die von ihren Kritikern als neoliberal gebrandmarkt wird?
Die meisten Kommentatoren bescheinigen dem Artikelgesetz, für enorme Fortschritte im Kampf gegen die Massenerwerbslosigkeit gesorgt, das Wirtschaftswachstum beflügelt und Deutschlands Wohlstand gemehrt zu haben. Sogar unter den zahlreichen Skeptikern sind nur wenige, die erkennen, dass Hartz IV zu Verschlechterungen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt hat. Durch die Hartz-Gesetze wurde nicht bloß der Arbeitsmarkt dereguliert, die Leiharbeit liberalisiert und der einzelne Transferleistungsempfänger stärker als bisher drangsaliert, die Bundesrepublik Deutschland vielmehr auch in einer bis dahin unbekannten Weise sozial fragmentiert und politisch formiert.
Eine kritische Bilanz dieser Reform kommt zu dem Schluss, dass es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voll innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. Sowohl die von Hartz IV unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer "Bedarfsgemeinschaft" zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Artikelgesetz war Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, welches die ganze Architektur und die innere Konstruktionslogik des Wohlfahrtsstaates, wie man ihn kannte, in Frage stellte.
Längst ist das Gesetzespaket namens "Hartz IV" die markanteste Chiffre für den "Umbau" beziehungsweise Abbau des Sozialstaats, welcher unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gegen Mitte der 1970er Jahre begann und etwa seit der Jahrtausendwende von sämtlichen Bundesregierungen gleich welcher Couleur beschleunigt fortgesetzt wurde. Es ging dabei um mehr als Leistungskürzungen in einem Kernbereich des sozialen Sicherungssystems, nämlich um einen Paradigmenwechsel der Regierungspolitik. Anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das vereinte Deutschland seither maßgeblich prägt.
Zum ersten Mal wurde mit Hartz IV eine für Millionen Menschen in Deutschland existenziell wichtige Lohnersatzleistung, die Arbeitslosenhilfe, abgeschafft und durch eine bloße Fürsorgeleistung, das Arbeitslosengeld II, ersetzt. Aber weit mehr als das: Durch die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und die nach seinem Bekannten Peter Hartz benannten Gesetze, vornehmlich das vierte, ist Deutschland zu einer anderen Republik geworden. Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der bald fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, erhält durch die weit gefassten Zumutbarkeitskriterien und die scharfen Sanktionen von Hartz IV immer neue Nahrung.
Neben der Verbreitung sozialer Eiseskälte gehören Entdemokratisierungstendenzen zu den Folgen der Hartz-Gesetzgebung, weil sich Arbeitslosengeld-II-Bezieher immer weniger an Wahlen beteiligen. Gleichwohl besteht noch immer die Hoffnung, dass der selbst von Helmut Schmidt wiederholt als "Europas größte kulturelle Errungenschaft im 20. Jahrhundert" bezeichnete Sozialstaat weder ein historisches Auslaufmodell ist noch demnächst zum Weltkulturerbe erklärt werden muss. Soll er nicht ins Museum der Altertümer neben das Spinnrad und die bronzene Axt wandern, muss ein politischer Kurswechsel eingeleitet, der Arbeitsmarkt rereguliert und Hartz IV rückabgewickelt werden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Der Text ist eine überarbeitete Version der Einleitung seines soeben erschienenen Buches "Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?" (Beltz Juventa).
Quelle: ntv.de