Person des Jahres: Angela Merkel Die Krankenschwester mit dem Riesenportemonnaie
29.12.2020, 12:06 Uhr

Merkel könnte gelingen, was allen Vorgängern verwehrt blieb: Ein glanzvoller Abgang.
(Foto: imago images/photothek)
Angela Merkel beendet ihr letztes volles Kanzlerjahr mit milliardenschweren Rettungsaktionen in Deutschland wie Europa. Ausgerechnet die Pandemie ermöglicht ihr dabei einen versöhnlichen Abtritt, wie er noch keinem Kanzler gelungen ist. Selbst mit Friedrich Merz hat sie ihren Frieden gemacht.
Deutschland ist mit seinen Bundeskanzlern bislang nicht zimperlich umgegangen. Alle wurden sie am Ende politisch verwundet, vom Hof gejagt, abgewählt, niedergeschrieben, von eigenen Leuten zur Seite gedrängt. Ob Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder - noch keinem Kanzler ist es gelungen, im Frieden mit seiner Partei, bei hohen Beliebtheitswerten oder gar auf dem Zenit ruhmreich oder auch nur selbstbestimmt abzutreten. Angela Merkel könnte das als Erster gelingen.
Die Kanzlerin ist jetzt seit unglaublichen 5515 Tagen im Amt. In ihre Kanzlerschaft haben vier französische Präsidenten, fünf britische Premiers und vier US-Präsidenten gepasst. Selbst der vermeintliche "ewige" Gründungskanzler Konrad Adenauer brachte es "nur" auf 5143 Tage. Vor Merkel liegen jetzt nur noch Otto von Bismarck (6934 Kanzlertage) und Helmut Kohl, der von 1982 bis 1998 genau 5869 Tage im Kanzleramt zubrachte. Ihn wird sie knapp verfehlen, es sei denn sie würde nach der Bundestagswahl noch bis zum 17. Dezember 2021 geschäftsführend im Amt bleiben - etwa, weil sich schwierige Koalitionsverhandlungen unerwartet lange hinziehen.
Ausgerechnet das Katastrophenjahr 2020 mit der Corona-Pandemie hat Angela Merkel das ermöglicht, was seit der Flüchtlingskrise von 2015 kaum jemand mehr für möglich gehalten hätte: Eine versöhnliche Zielgerade in kraftvoller Statur. Die offensichtlichen Fehler und peinlichen Versäumnisse der deutschen Corona-Politik werden ihr kaum angelastet.
Der größte Geldbeutel der Nachkriegs-Geschichte
Obwohl asiatische Staaten mit klügeren Politikern besser durch die Pandemie gekommen sind, wird Merkels Führung in der Coronakrise von der großen Mehrheit der Deutschen nicht bloß befolgt, sondern geschätzt. Ihre Umfragewerte sind nicht nur gut für eine 5515 Tage andauernde Kanzlerschaft; sie sind sensationell.
Merkels Erfolg im letzten vollen Jahr ihrer Kanzlerschaft beruht auf einer cleveren Rolle - die der doppelten Krankenschwester mit Riesenportemonnaie. Doppelt, weil ihre Geldbeutel-Krisenpolitik eine innenpolitische und eine europäische Dimension zeigt. Für Deutschland hat Merkel vom ersten Moment an einen strengen, teuren Kurs der Kontaktsperren mit wiederholten Lockdowns verfolgt. Schon im März erklärt sie ihre Corona-Politik zum ersten Mal in ihrer Amtszeit über eine Fernsehansprache: "Es ist ernst, nehmen sie es auch ernst."
Ein völlig lahmgelegtes öffentliches Leben, geschlossene Geschäfte und Restaurants, ausgestorbene Innenstädte, unterbrochene Lieferketten, ganze Branchen im Koma, Millionen Menschen in Kurzarbeit: Deutschland stand im Frühjahr still. Als Gegenmaßnahme schnürte die Bundesregierung gigantische Hilfspakete im Rekordtempo. Neue Schulden in dreistelliger Milliardenhöhe wurden eilig aufgehäuft. Die von der CDU viel beschworene "Schwarze Null" galt plötzlich nicht mehr. "Wir machen alles, was nötig ist", verspricht Angela Merkel und zückt den größten Geldbeutel der bundesrepublikanischen Geschichte. Wirtschaft und Bevölkerung vertrauen ihr.
Merkel hält EU zusammen
Auch auf europäischer Ebene entscheidet sich Merkel für eine Politik des Sich-aus-der-Krise-Herauskaufens. So wie in Deutschland die Schwarze Null geopfert wurde, eröffnet Angela Merkel für die EU eine gewaltige, vor Kurzem noch strikt abgelehnte Schuldenunion. Beides ist politisch umstritten und dürfte langfristig noch jede Menge Ärger provozieren. Doch im Moment der Virus-Panik bekommt sie nicht nur ihre Mehrheiten für das Krisenmonopoly - bislang haben beide Aktionen auch funktioniert.
Die EU hat das Krisenjahr 2020 trotz Corona-Desaster und Brexit erstaunlich gut überstanden. Die alten Nord-Süd-Konflikte und die neueren Ost-West-Streitigkeiten innerhalb des Staatenbündnisses tobten 2020 heftig. Doch Merkels Deutschland vermittelte - mit jeder Menge Geld. Die Union wäre ohne deutsche Ratspräsidentschaft und ohne das finanziell so freigiebige Deutschland nicht beisammengeblieben. Das war Merkels Werk.
So wurde das Jahr 2020 für Angela Merkel zum Höhepunkt deutscher Scheckbuchdiplomatie nach innen wie nach außen. Da die Krise noch viele ängstigt, bleibt die Kritik daran leise. Das Milliarden-Monopoly gilt den meisten als kleineres Übel.
Zu den wenigen, die offen widersprechen, zählt Friedrich Merz. "Der Finanzminister haut zurzeit das Geld raus, als gäbe es kein Morgen mehr. Unsere Kinder werden das alles bezahlen müssen", warnt er im CDU-O-Ton alter Soliditätspolitik. Zwar sei es richtig gewesen, die Schuldenbremse des Grundgesetzes in diesem Jahr zu lösen. "Aber eine Bremse zu lösen, muss ja nicht gleichzeitig heißen, mit Vollgas den Berg herunterzurauschen."
Doch Merkels Beliebtheitswerte bleiben hoch und werfen ein wärmendes Licht auf ihre Zielgerade. Sie bleibt darum in den meisten politischen Streitfragen auch milde präsidial gestimmt. Die verbleibenden 270 Tage wird sie sich nach den gigantischen Ausgaben und großer Politik nicht mehr kleinlich in Sach- und Personalfragen vertiefen. Selbst mit Friedrich Merz hat sie ihren Frieden gemacht und ihn - auch das zählt zu ihrer Bilanz 2020 - ins Kanzleramt zur Aussprache eingeladen. Sie wird sich in das Duell von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Ex-Fraktionschef Merz um den CDU-Chefposten nicht einmischen. Denn diese Frage können weder die Krankenschwester der Nation noch ihr Geldbeutel konfliktfrei lösen.
Quelle: ntv.de