Pressestimmen

Ein Bild, das die Welt bewegt "Menschenwürde mit Füßen getreten"

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(Foto: picture alliance / dpa)

Das Bild eines toten Kindes vor der türkischen Küste geht um die Welt und schockiert. Die Leiche des dreijährigen Aylan wird zum Symbol der Flüchtlingskrise und der mangelnden Hilfen für Menschen, die sie dringend benötigen. Die Politik müsse schneller handeln und Verantwortung für das Schicksal Tausender Menschen auf der Flucht übernehmen, meint die deutsche Presse.

Das Mindener Tageblatt schreibt: "Wie in einem Brennglas bringt dieses erschütternde Bild das vielfache menschliche Versagen auf den Punkt, das letztlich zum Tod dieses Kindes geführt hat. Einem leider alltäglichen Tod." In dieser und anderen Formen sei er vieltausendfach Bestandteil dessen, was wir auch deshalb mit oft abstrakten oder gar abwehrenden Bezeichnungen belegen, um es auf gewisse Weise von uns fernhalten zu können, so das Blatt. Das Foto lasse uns diese Möglichkeit nicht. "Es zeigt: hinter all diesen Begriffen, politischen Diskussionen, Verteilungsstreitereien, Interessengegensätzen, organisatorischen Herausforderungen und finanziellen Problemen stehen Schicksale. Menschen. Deren Würde tagtäglich missachtet wird. Auch durch Wegsehen."

"Bilder können eine mächtige Wirkung entwickeln, Bilder können den Kurs der Politik beeinflussen", stellt die Südwest-Presse fest. In unser kollektives Gedächtnis habe sich das Bild des nackten, schreienden vietnamesischen Mädchens eingebrannt, das im Juni 1972 vor dem Napalm-Angriff auf ihr Dorf Trang Bang flüchtet. Es habe damals den Blick der Welt auf den Vietnam-Krieg verändert. Ein Bild, das jedes Tabu breche und eigentlich nie hätte gedruckt werden dürfen. Aber geholfen habe, den Krieg zu beenden. "Der Tod eines Kindes macht niemals Sinn. Doch vielleicht hilft der Anblick des toten Aylan, den kleinmütigen und unwürdigen Streit der Europäer zu beenden, wie den Flüchtlingen geholfen werden kann. Kein Land kann sich aus der Verantwortung stehlen, Europa muss endlich gemeinsam handeln. Aus Respekt vor Opfern wie Aylan."

Es gebe Bilder, die gehen durch Mark und Bein, textet die Märkische Oderzeitung. Nicht weil sie Ereignisse zeigen oder Informationen transportieren, die neu wären, sondern weil sie den Menschen, die Krieg, Not und Elend oder Qualen erleiden, ein Gesicht geben. "Umgekehrt könnte man sagen, wovon es keine Bilder gibt, das gibt es auch nicht. Zumindest in unserer Wahrnehmung, die so subjektiv wie ungerecht ist, so mitfühlend wie zynisch. Jetzt geht das Bild eines kleinen Jungen um die Welt, dessen Leiche an den türkischen Strand gespült wurde." Er sei nicht der erste Tote des Flüchtlingsdramas, konstatiert das Blatt. Und er werde nicht der letzte sein. "Tausende sind schon vor ihm im Meer gestorben. Und dennoch rüttelt das Bild des Jungen mehr auf als andere. Wer oder was sind wir, wenn wir solche Bilder weiter hinnehmen?"

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint: "Die Menschenwürde des kleinen Syrers wurde schon zu Lebzeiten mit Füßen getreten. Von einem Regime, das seine Familie aus dem Land trieb. Und von den Schleppern, die Männer, Frauen und Kinder auf Seelenverkäufern und in Lastwagen zusammenpferchen." Mancher gebe auch der angeblichen Kaltherzigkeit der Europäer und ihrer Regierungen eine Mitschuld am Tod dieses Kindes und der Tausenden anderer Migranten. "Das Foto, so die Argumentation, sei ein Dokument für das Versagen Europas und müsse als solches veröffentlicht werden. Doch haben uns die Gewaltorgien im Fernsehen und im Netz wirklich so abgestumpft, dass wir das Ausmaß der Tragödie vor und auch schon hinter unserer Türschwelle nur dann begreifen, wenn wir Bilder von echten toten Kindern am Strand oder in einem Kühllastwagen sehen?"

Es sei naiv zu glauben, dass sich das komplexe Problembündel, das hinter dem weltweiten Flüchtlingsdrama stecke, mit einem entschlossenen Schlag lösen ließe, schreibt die Hessische Niedersächsische Allgemeine aus Kassel. "Wahrscheinlich wäre deshalb schon viel erreicht, wenn die Politik angesichts der Tragödie an der türkischen Küste zumindest die lösbaren Probleme ein wenig entschlossener und mutiger angehen würde: die ungerechte Flüchtlingsverteilung in Europa etwa oder die ungelösten Abschiebungsfragen." Vor allem aber könne das Bild des toten Aylan vielleicht helfen, die aufgeheizte und zum Teil maßlose Debatte der vergangenen Wochen auf das zu konzentrieren, um das es tatsächlich geht: um unschuldige Menschen in oft existenzieller Not.

Zusammengestellt von Lisa Schwesig

Quelle: ntv.de

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