Wirtschaftswunder Estland Der baltische Tiger
18.03.2008, 07:53 UhrDarauf haben die Esten lange gewartet: Nach dem Beitritt zur Europäischen Union gehört ihr Land seit 2007 auch zum Schengener Raum. Damit können sie problemloser reisen oder sich auch in anderen Ländern Arbeit suchen. Auch die Zollbeschränkungen fallen weg. Der "baltische Tiger" Estland hat seit Jahren ein rasantes Wirtschaftwachstum zu verzeichnen, die Arbeitslosigkeit liegt bei unter sechs Prozent.
Hohe Inflation
"Der EU-Beitritt 2004 war für Estland ein ganz wichtiger und logischer Schritt: Das Land war soweit", sagt Maren Diale-Schellschmidt von der Deutsch-Baltischen Außenhandelskammer in Tallinn, der Hauptstadt des Landes. Die Einführung des Euro brauche allerdings noch etwas Zeit. "Es gibt hier eine hohe Inflation, die mit dem rapiden Wirtschaftswachstum zusammenhängt. Selbst die estnischen Regierungsvertreter reden im Moment von einer Einführung nicht vor dem Jahr 2012 oder 2013. Da ist man realistisch."
Trotz vieler historischer Straßenzüge ist Estland ein modernes Land. Seine großen Stärken liegen im IT-Bereich und im Dienstleistungssektor, der stark mit dem Tourismus verbunden ist. Das zeigt sich vor allem in Tallinn, dem wirtschaftlichen Zentrum des Landes. 400.000 Menschen leben hier – etwa ein Drittel aller Bewohner Estlands. Vor allem die mittelalterliche Altstadt ist Touristenattraktion, sie gehört zum UNESCO-Welterbe.
Eine wichtige Branche stellt aber auch der Banken- und Finanzsektor dar. Den Markt teilen sich hauptsächlich die HansaBank und die Ühisbank, hinter denen skandinavische Großbanken SEB und Swedbank stehen. "Beide Banken - die unsere vielleicht sogar noch stärker - haben diesen Status nicht so sehr den Fähigkeiten ihres Personals zu verdanken, sondern viel mehr den Entwicklungen im IT-Bereich", ist Lauri Lind von Hansabank Markets überzeugt. "Damit ist unsere Bank jeglicher Konkurrenz von außerhalb weit überlegen. Für eine andere Bank ist es nun unglaublich schwierig, auf den estnischen Markt vorzustoßen."
Freier Zugang zum Internet für jedermann
Fast alle Transaktionen werden über das Internet abgewickelt, die Hälfte der Kunden bevorzugt Online-Banking. Die estnische Verfassung verspricht jedem Bürger freien Zugang zum Netz. So können die Esten in allen Cafs und Bibliotheken kostenlos und meist per W-LAN ins Web. Überhaupt sind die meisten von ihnen technisch auf dem neuesten Stand. Kein Wunder, dass "Skype" aus Estland stammt.
Auch für Regierung ist das Internet aus dem Arbeitsalltag nicht mehr wegzudenken, "e-Government" lautet das Stichwort. Im "papierlosen Parlament" kommunizieren die Mitarbeiter ihre Informationen per Computer, jährlich spart man dadurch rund 200.000 Euro für Papier und Kopiererkosten ein. So gut wie alle Esten besitzen ein Handy. Das nutzt die Regierung hin und wieder, um darüber Nachrichten an die Bürger des Landes zu schicken – zum Beispiel, um sie zur Wahl zu rufen. Bei den Kommunalwahlen 2005 wurde erstmalig per Internet abgestimmt. So viel Moderne findet man in Westeuropa nicht.
Übersichtlicher Aktienmarkt
Der Aktienmarkt in Estland ist derzeit noch recht übersichtlich, bisher sind erst 20 Unternehmen an der Börse notiert. Als Anleger sollte man sich auf die Eigenheiten des Finanzmarktes einstellen, so der Osteuropa-Fonds-Manager der Berenberg Bank, Ralph Luther. "Man muss auf jeden Fall darauf achten, dass die Liquidität im estnischen Markt sehr gering ist", sagt er. "Wir in Westeuropa sind da etwas verwöhnter, weil man hier ohne Probleme Stückzahlen in größeren Mengen handeln kann." Das sei in Estland nicht möglich, weil der Markt recht klein sei. "Wenn ein Anleger auf Trading aus ist, also auf ein schnelles Handeln von Aktien, ist er hier an der falschen Adresse. Das ist nicht möglich oder nur mit wenigen Titeln. Die meisten Aktien sind eher für Langfrist-Investoren geeignet: Erst kaufen, länger liegen lassen und dann vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt verkaufen."
Norma ist eines der börsennotierten Unternehmen in Estland. Hier werden Sicherheitsgurte für Autos in ganz Europa produziert, unter anderem für Volkswagen, BMW, Audi oder Volvo. Bei Norma versucht man, in Zusammenarbeit mit der Universität Tallinn frühzeitig Kontakte zu Studenten zu knüpfen. Denn überall in Estland fehlen qualifizierte Fachkräfte. Die jungen, klugen Köpfe verlassen das Land, weil sie anderswo mehr verdienen können. Dennoch: Die meisten Führungspositionen in der Wirtschaft und zum Teil auch in der Politik sind von jungen Leuten besetzt. Sie haben in ihrer kurzen und guten Ausbildung das Handwerkszeug erlernt, um in der Marktwirtschaft bestehen und sie gestalten zu können. Anders ihre Eltern: Sie sind noch im Sowjetsystem aufgewachsen, die Umstellung gelang vielen von ihnen nicht mit der Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit denen ihre Kinder sich auf die Herausforderungen einstellen konnten. Oft genug macht sich diese Kluft zwischen den Generationen bemerkbar.
Beziehungen zu Russland könnten besser sein
Der Hafen Tallins ist nicht nur wichtig für den Handel, sondern auch für den Transport von Menschen. Helsinki liegt nur anderthalb Stunden entfernt, und so pendeln viele Berufstätige täglich von Finnland nach Estland. Das Schifffahrtsunternehmen Tallink ist eines der wichtigsten Unternehmen. Seine Routen führen nach Skandinavien und Deutschland. Eine Fährverbindung nach Russland wurde 2004 nach nur acht Monaten wieder eingestellt. Das Unternehmen bekam nicht genügend Passagiere zusammen. "Das Interesse von russischer, skandinavischer und estnischer Seite daran war zwar groß", groß berichtet Janek Stalmeister von der AS Tallink Group. "Die Leute hatten Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen und mussten drei, vier Wochen darauf warten. Dazu kam, dass sie dafür mehr bezahlen mussten als für die Überfahrt selbst. Es hat sie 50 bis 60 Euro gekostet, ein Visum zu erhalten, um die Eremitage in St. Petersburg zu besuchen. Das ist zu einfach viel für einen Tagesausflug."
Für Westeuropäer ein Einstieg in den Osten
Auch sonst hofft man in den wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland auf Besserung, wie auch Maren Diale-Schellschmidt weiß. "Ein wichtiger Einfluss Russlands, den die Esten nicht so gern haben, liegt im Energiesektor. Estland ist hier sehr von Russland abhängig. " Neben bürokratischen Hindernissen müssten auch noch Probleme im Logistik- und Transportbereich gelöst werden. Russland ist neben der Europäischen Union der wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner Estlands. "Estland dient Westeuropäern als Einstieg nach Russland ", sagt sie. "Der große russischsprachigen Bevölkerungsanteil kann vom sprachlichen Hintergrund und vom kulturellen Verständnis her helfen, einen Zugang zu Russland zu vermitteln." Die Esten sehen sich selbst übrigens weniger als Osteuropäer denn als Nordeuropäer oder Skandinavier. Dem entsprechen auch ihre Fremdsprachenkenntnisse: Neben Englisch ist Finnisch eine vielgesprochene Sprache. Auch Russisch beherrschen die meisten von ihnen.
Das Potential dieses Landes und überhaupt des Baltikums entdecken deshalb mehr und mehr deutsche Unternehmer. Ihre Direktinvestitionen liegen zwar hinter denen Skandinaviens und Russlands, aber viele Mittelständler gründen in Estland ihre Niederlassungen. Auch große Namen wie E.on oder Siemens findet man hier. Die Qualität der deutschen Produkte wird sehr geschätzt; die Esten sind bereit, dafür auch höhere Preise zu zahlen. Neben dem positiven Geschäftsklima, den niedrigen Lohnkosten und den guten Absatzmöglichkeiten reizt deutsche Unternehmer nicht zuletzt die einheitliche Unternehmenssteuer von derzeit 21 Prozent. Im nächsten Jahr soll sie auf endgültige 20 Prozent sinken. "Diese Flat-Tax hat sich sehr bewährt", sagt Maren Diale-Schellschmidt. "Sie ist unbürokratisch, einfach und macht die Geschäfte planbarer. Für Deutschland wäre das auch eine gute Idee."
Quelle: ntv.de