EM-Analyse mit Hickersberger "Deutschland ist jetzt der deklarierte Favorit"
27.06.2016, 08:30 Uhr
Schlussjubel von Thomas Müller und Mats Hummels (v.l.) nach dem Spiel gegen die Slowakei.
(Foto: imago/MIS)
Nach der DFB-Gala gegen die Slowakei steht für Josef Hickersberger fest: Der neue EM-Favorit heißt Deutschland. Schwächen kann er nicht entdecken, dafür ganz viel Weltklasse und einen Joshua Kimmich, der den unersetzlichen Philipp Lahm vergessen lässt. Und Lukas Podolski? Ist doch kein EM-Maskottchen.
Herr Hickersberger, wir müssen reden! Portugal gegen Kroatien, auf dem Papier ein Kracher, auf dem Platz fast 120 Minuten Fußball-Folter und das in einem EM-Achtelfinale. Was war da los?
Hickersberger: Ja, was war da los? Portugal hat für mich völlig überraschend eine sehr vorsichtige Spielweise gewählt, sehr reaktiv gespielt. Und Kroatien ist weit unter seinen Möglichkeiten geblieben, hat sich sehr schwer getan, keinen guten Tag erwischt. Das kann sich dann in der K.-o.-Phase fatal auswirken.

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. Für n-tv.de analysiert er die deutschen EM-Spiele.
(Foto: imago sportfotodienst)
Bei den Kollegen vom "Guardian" wurde diskutiert, ob es jemals ein schlechteres Spiel bei einer EM oder WM gegeben hätte.
(lacht)
Können Sie sich als Österreicher an eins erinnern?
Schwierig. Es hat bestimmt schon viel schlechtere gegeben. Es war nicht besonders hochklassig, unterhaltsam, aber es war doch interessant vom taktischen Gesichtspunkt. Im Nachhinein ist natürlich Portugals Coach Santos für seine Taktik hochgelobt worden. Aber wenn der Stangenschuss der Kroaten direkt vor Portugals Treffer ins Tor geht, wäre er wahrscheinlich nicht gefeiert, sondern gefeuert worden.
Entschädigt wurden die Fußballfans mit Teil 2 der Achtelfinals. Frankreich gegen Irland, Deutschland gegen die Slowakei, Belgien gegen Ungarn. Welches Spiel hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?
Ja, das war ein guter Tag für den Fußball bei der Europameisterschaft. Am meisten Spaß gemacht hat mir Deutschland.
Sagen Sie das uns zuliebe?
Nein, nein. Ganz einfach, weil das eine Leistung war, die man als ausgezeichnet bezeichnen muss. Vor allem in der ersten Spielhälfte hat Deutschland geglänzt, einen Gegner wie die Slowakei dominiert. In der zweiten Halbzeit hat man in den ersten 15 Minuten nicht mehr so intensiv gepresst wie zuvor, ein bisschen auf Abwarten gespielt. Da hat die Slowakei dann sogar mehr Ballbesitz gehabt, mehr Torschüsse, ist aber nur einmal torgefährlich geworden. Sonst war Deutschland überragend. Das war, würde ich sagen, schon eine meisterliche Leistung. Eine Freude, das anzusehen.
Im ersten DFB-Spiel hat der Angriff überzeugt, im zweiten die Abwehr, im dritten beides, aber die Chancenverwertung war miserabel. Hat gegen die Slowakei erstmals alles gepasst?
Eigentlich ja. Die Abwehr mit Manuel Neuer, Jérôme Boateng und Mats Hummels ist auch in diesem Spiel ein Abwehrbollwerk gewesen. Und jetzt fängt der Boateng noch mit dem Toreschießen an. Es könnte nicht besser laufen. Deutschland ist jetzt der deklarierte Favorit auf den Europameistertitel. Allerdings werden die Gegner jetzt schwieriger, stärker, als es die Slowakei sein konnte, und Deutschland braucht noch dreimal so eine Leistung.
Welche Schwächen muss Deutschland unbedingt noch abstellen?
Also, ich habe beim besten Willen keine Schwächen entdecken können.
Worauf führen Sie den Leistungssprung im deutschen Spiel zurück?
Es hat keinen schwachen Punkt in der Mannschaft gegeben. Und einige, nein mehrere Spieler, haben ihre absolute Weltklasse wieder mal unter Beweis gestellt.
Nämlich?
Neuer. Hat nie was zu tun. Dann wird er einmal gefordert und wehrt hochkonzentriert einen Ball ab. Hummels, Boatengs Spielaufbau, zusammen mit Toni Kroos, der den Takt vorgibt im Mittelfeld. Da stimmt von der Spieleröffnung an eigentlich alles.
Wie fanden Sie Julian Draxler?
Julian Draxler hat eine herausragende Leistung geboten, das hat mich doch etwas überrascht. Ich habe ihn überhaupt noch nicht so stark gesehen wie in diesem Spiel. Mit seinen Dribblings, der Art und Weise, wie er Mario Gomez quasi zum Tor gezwungen hat. Das war schon sehr beeindruckend.
Und Joshua Kimmich?
Kimmich wächst immer mehr herein, auch wenn er einmal größte Probleme gehabt hat bei einer Flanke. Aber da hätte der Philipp Lahm, bei aller Wertschätzung, auch Probleme gehabt. Ich hab den Lahm jetzt nicht vermisst und einem Spieler wie dem Kimmich kann man kein größeres Kompliment machen. Das war wirklich ausgezeichneter Fußball.
Spanien oder Italien, dann vielleicht Frankreich: Im weiteren Turnierverlauf werden die Gegner nicht nur stärker, sondern auch immer offensivstärker. Spricht das wieder für den defensiv solideren Benedikt Höwedes als Rechtsverteidiger?
Ich würde mich freuen, wenn der Kimmich weiter auf dieser Position spielen würde, weil das dem deutschen Spiel weiterhin sehr gut täte. Aber das ist natürlich die Entscheidung von Jogi Löw. Er hat jetzt über einen längeren Zeitraum überwiegend ausgezeichnete Entscheidungen getroffen, in diesem Spiel wieder mit Draxler anstelle von Mario Götze.
Gegen die Slowakei hat Bundestrainer Löw entgegen Ihres Rats die Startelf umgebaut, für Draxler musste Götze weichen. War er der große Verlierer des deutschen Triumphs?
Also … er war auch nicht Verlierer. Aber er hat halt nicht von Beginn an gespielt.
Die Frage ist ja: Wird er nochmal von Beginn an spielen?
Das vermag ich vom Sofa nicht zu beurteilen. Aber er ist ein Spieler, das hat er auch in Brasilien bewiesen, den man zu jeder Zeit einwechseln kann und der Entscheidendes auf dem Platz machen kann.
Entscheidendes macht im Moment vor allem Jerome Boateng, inzwischen nicht nur als Abwehrchef und Spieleröffner, sondern auch als Traumtorschütze. Wo soll das noch hinführen?
(lacht) Ja, zum Titel. Ganz einfach.
Auch zu persönlichen Titeln für Boateng, zum Beispiel als Weltfußballer?
Da hat er jetzt seine Visitenkarte schon mal hinterlegt, auch wenn generell immer Stürmer oder Offensivspieler für diese Auswahl bevorzugt werden. Ich glaube, selbst der Gauland wird seine Meinung langsam ändern müssen, ob er will oder nicht.
Stichwort Offensive, Stichwort Mesut Özil. Der hat vorhin bei jenen DFB-Spielern gefehlt, die in Ihren Augen ihre Weltklasse unter Beweis gestellt hätten.
Es war ein gutes Spiel von ihm. Mir hat Özil besser gefallen als in den letzten Spielen. Es ist unbestritten, dass er ein super Fußballer ist und das Spiel der deutschen Nationalmannschaft mitprägen kann. Allerdings, der Elfmeter hat nicht dazu gepasst. Der war doch eher von der haltbaren Sorte.
Neben Özil gibt es noch viele andere Sachen im Fußball, die wir nicht verstehen, deswegen plaudern wir so gern mit Ihnen. Aktuell grübeln wir: Was hat sich die Uefa dabei gedacht, Spieler bei der EM nach zwei Gelben Karten zu sperren?
Ich sehe keinen Sinn, es ist eher Unsinn denn Sinn, also kann ich es auch nicht erklären.
Themenwechsel: Joachim Löw hat unter der Woche betont, "es gibt keine Trainerlieblinge". Warum hat er dann Lukas Podolski eingewechselt?
Um ihm ganz einfach seine Wertschätzung zu zeigen. Das hat mit Trainerliebling wenig zu tun. Das Spiel war zu dem Zeitpunkt entschieden. Es war ganz einfach der Wunsch von Jogi Löw, dass möglichst viele Spieler während des Turniers zum Einsatz kommen. Das war keine taktische Maßnahme. Das sind Maßnahmen, die die Stimmung in der Mannschaft auf einem hohen Niveau halten.
Aber: Warum Podolski und nicht einer der Youngster wie Leroy Sané oder Julian Weigl?
Tja. Die Frage muss der Jogi Löw beantworten.
Podolski selbst hat sich vor der EM darüber beschwert, dass er mancherorts als EM-Maskottchen bezeichnet wurde. Trägt Löw mit so einer Einwechslung nicht zu dieser Sichtweise bei?
Na, also das ist ein bisschen despektierlich. Wenn er nur Maskottchen wäre, dann hätte ihn Jogi Löw nicht in den Kader einberufen. Das kann sich kein Trainer der Welt erlauben, auch Jogi Löw nicht, zu einer Europameisterschaft Maskottchen mitzunehmen.
Den deutschen Viertelfinalgegner ermitteln Titelverteidiger Spanien und Deutschlands Angstgegner Italien. Laut Löw ist Spanien leichter Favorit, aber Italien zu allem fähig. Was machen wir daraus?
(lacht) Was machen wir daraus, ja? Also ich beurteile Spanien nicht nach der Niederlage gegen Kroatien, sondern nach den beiden ersten Spielen. Spanien ist auch einer der ganz großen Favoriten und ich glaube, dass sie gegen Italien gewinnen werden.
Und dann im Viertelfinale?
Puh. Wage ich noch keine Prognose.
Dann verraten Sie uns dafür zum Abschluss noch schnell: Wie wird man eine Turniermannschaft? Das könnte ja perspektivisch auch für Ihr Heimatland wieder mal von Interesse werden.
Nur durch Erfolge!
Es sieht also schlecht aus für Österreich.
(lacht) Im Moment schon.
Quelle: ntv.de