Wolfsgruß, Sylt, Todeswünsche Die Fußball-EM wird plötzlich richtig hässlich

Immer mehr Rechtsextreme nutzen die EM als Bühne für ihre Parolen und Ansichten.

Immer mehr Rechtsextreme nutzen die EM als Bühne für ihre Parolen und Ansichten.

(Foto: IMAGO/Matthias Koch)

Die ersten Tage der Fußball-EM sind bunt, schön, friedlich. Die Schotten werden zum Inbegriff der großen Party, die Europa als Gast in Deutschland feiert. Doch diese Bilder werden immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Plötzlich wird es hässlich.

Im Herbst des vergangenen Jahres hatte Turnierdirektor Philipp Lahm seine Vision für die Fußball-EM verraten. Eine Zeitenwende in der Gesellschaft hatte er dem Turnier verordnet. Er wünsche sich, dass die wichtigen Werte des Kontinents gestärkt werden: Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Toleranz, Integration. In den ersten Tagen der EM durfte er seinen Wunsch als erfüllt betrachten. Viele bunte Bilder gab es. Zum Inbegriff wurden die Schotten, die von allen Seiten Liebe erhielten. Doch dann zogen immer dunklere Wolken auf. Und mittlerweile ist das Turnier fest im Griff politischer Debatten. Es geht um Rechtsextremismus, um Faschismus, um Nationalismus. Die Zerrissenheit Europas zeigt sich auch auf der größten kontinentalen Sportbühne. Eine Überraschung ist das nicht.

Sollte nochmal jemand behaupten, dass der Sport nicht politisch sei, er bekommt diese Naivität in diesen Tagen mit Wucht um die Ohren gehauen. Niemand redet mehr über das mitreißende Fußballspiel zwischen Österreich und der Türkei, das der Torwart Mert Günok mit einer Sensationsparade für die Türkei entschied. Der emotionale 2:1-Sieg im Achtelfinale gegen die Mannschaft von Ralf Rangnick ist das nun alles überlagernde Thema, weil der Doppeltorschütze Merih Demiral zum Jubel den Wolfsgruß gezeigt hatte. Ein Signum der Rechtsextremen im Land, vergleichbar mit dem Hitlergruß. Es war das hässlichste Spiel der EM. Abgründe taten sich auf.

Schon vor dem Spiel sangen einige österreichische Fans den rechtsextremen Sylt-Hit der Saison. Auf der Nordsee-Insel hatten sie aus "L'Amour toujours" von DJ Gigi D'Agostino die rassistische Parole "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!" gemacht. Die Österreicher kopierten dies nun auch bei der EM. Es war nicht das erste Mal, dass die Fans aus der Alpenrepublik unangenehm auffielen. Bereits beim 3:1 gegen Polen war "Defend Europe", ein Slogan der Identitären Bewegung, auf einem Banner im Stadion zu lesen.

Die Europameisterschaft taumelt auf dem wackeligen Boden unserer Gesellschaft, die an den Rändern die Balance verloren hat. Die Linke wankt. Die Rechten werden massiv stärker. Die Mitte verliert an Macht und vor allem an Souveränität. Die Grautöne in den Debatten verschwinden. Es ist nur Schwarz und Weiß. Weil in Deutschland nach dem Wolfsgruß große Empörung herrschte, wurde der türkische Botschafter einbestellt und in Ankara der deutsche Botschafter. Jetzt kündigt sich auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Viertelfinale in Berlin an. Man kann sich bereits vorstellen, wie aufgeheizt die Atmosphäre in der Hauptstadt am Wochenende werden wird. Wieder Schwarz und Weiß.

Das Bunte droht zu verschwinden

Es geht nicht mehr um singuläre Ereignisse, es geht um das große Ganze. Um Europa, um seine Werte. Um die Zukunft. Und alles wird ausgetragen beim Spiel um den Ball. Der Besuch im Stadion ist längst nicht mehr frei von Ideologie, dann können die deutschen Fans noch so viele pinkfarbene Trikots tragen und die Vielfalt beschwören. Beim letzten Fanmarsch in Dortmund sprach ein Männer-Trio davon, dass jede Abschiebung eine gute Abschiebung sei. Sie trugen das weiße Deutschland-Trikot.

Schon vor dem Turnier hatte eine Umfrage der ARD für großen Wirbel gesorgt. 21 Prozent der Befragten hatten sich gewünscht, dass wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe für das DFB-Team auflaufen sollen. Ob es ihnen missfällt, dass Jamal Musiala das Land mit seinen Dribblings verzaubert? Dass Antonio Rüdiger für Monstergrätschen gefeiert wird?

Abwehrchef Rüdiger ist in der DFB-Mannschaft zu dem Spieler geworden, an sich die Konfliktlinie der offenen Gesellschaft mit den Nationalisten am besten nachzeichnen lässt. Als der gläubige Moslem einst den Zeigefinger hob und zum Ramadan grüßte, wurde er in rechten Kreisen als Islamist attackiert. Der ehemalige "Bild"-Chef Julian Reichelt startete eine Kampagne gegen Rüdiger, der reagierte mit einer Anzeige. Die Welt bewegt sich in einer ständigen Ekstase. Nun ist das beim Fußball nichts Neues. Mit den extremen Ausschlägen der Gefühle sind Fans bestens vertraut. Aber da geht es um Glück und Frust, auch um Ärger und Wut. Hass in bestimmten Gruppen auch. Aber der Fußball war nicht die Bühne für heftigste ideologische Auseinandersetzungen.

Diese EM war bunt und schön. Sie war prima, ein friedliches Fest der Nationen. Europa zu Gast bei Freunden. Jetzt ist sie Sylt, Migration, rechtsnational. Natürlich nicht in der Masse. In den Zügen, Bahnen und Bussen sitzen immer noch Fangruppen zusammen, lachen und foppen sich. Aber es sind nicht die vielen, die wahrgenommen werden, sondern die lauten. Und die werden immer mehr und sehen die Zeit gekommen, sich nicht mehr zu verstecken. Die Österreicher grölten wie andere vor ihnen ihre nationalistischen Ansichten heraus. Überall im Land tauchten Videos von Volksfesten auf, wo Menschen Lieder gegen Ausländer sangen und feierten. Bei Public Viewings wurde immer wieder der Hitlergruß gezeigt. In erschreckend großen Teilen der Bundesrepublik ist Rassismus akzeptiert.

"Tötet den Serben"

Das Lied von D'Agostino wurde bei der EM verboten. Verschwunden ist es nicht. Als die ungarischen Fans zum Spiel gegen die Deutschen marschierten, stimmten sie den Song an, hielten ein "Free Gigi"-Plakat hoch. Beim Duell zwischen Italien und Spanien sangen Gruppen das Lied im Stadion. Unklar war, wem diese Gruppen zuzuordnen waren. Dann Österreich gegen die Türkei - und weitere. Albaniens Stürmer Mirlind Daku stimmte anti-mazedonische und -serbische Gesänge an. Einige Albaner sorgten zudem für große Empörung, als sie gemeinsam mit Kroaten "Tötet den Serben" riefen. Einige Serben wiederum präsentierten eine Landkarte inklusive des seit 2008 unabhängigen Kosovo. Alles war plötzlich präsent. Die Hetze, der Hass.

In den sozialen Netzwerken ging es nach Spielen der Türkei besonders hoch her. In Dortmund sorgten Autokorsos nach den ersten beiden Spielen für große Partys und eine verstopfte Innenstadt. Das meiste lief friedlich ab, freundlich. Aber bei X trollten sich die Extremen, wüteten los, hassten einfach nur. Wenn sich eine Fan-Lawine auf den Weg zum Stadion macht, braucht es mittlerweile das Beiwort "Euphorie", sonst werden direkt negative Konnotationen angehängt. Anders als etwa bei den Niederländern, die mit ihrem "naar links, naar rechts"-Gehüpfe das Land in Begeisterung versetzen. Auf den deutschen Volksfesten spielen mittlerweile sogar Blasmusik-Orchester den Song nach und springen auf dem Holzboden herum.

In der Ablehnung des Fremden vereint

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Rangnick stellte sich in einem bemerkenswerten TV-Interview gegen die Rassisten. Auch die französischen Stars machten von der Macht ihrer Marke Gebrauch und riefen in emotionalen Appellen dazu auf, Frankreich nicht den Rechtsextremen zu überlassen. In der Parlamentswahl verhaftete das nicht. Der Rassemblement National um ihre schillernde Führungsfigur Marine Le Pen wurde stärkste Kraft. Vor der anstehenden Stichwahl sortiert sich das Land, schmiedet Bündnisse gegen die extreme Rechte. In den Belgien hatten die bereits die Oberhand gewonnen, auch in den Niederlanden, wo künftig das schärfste Migrationsgesetz der EU entstehen soll. Doch das sind längst nicht die Probleme der anderen, die AfD ist hier die zweitstärkste Kraft. Und in ihren politischen Ansichten selbst Le Pen und Italiens Chefin Giorgia Meloni zu extrem. Auf EU-Ebene brach man mit der AfD.

Die hielt am vergangenen Wochenende ihren Bundesparteitag in Essen ab. Es kam zu Demonstrationen und auch gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die den Parteitag beschützen mussten. Am Samstagabend spielte die deutsche Nationalmannschaft. Es war ein buntes Fest in Dortmund. Viele AfD-Politiker schauten nicht zu, sie können sich mit der Mannschaft, die in pinken Trikots spielt, nicht mehr identifizieren. Der umstrittene Maximilian Krah nennt das DFB-Team eine "Fremdenlegion". Mehr Ablehnung geht nicht. Mehr Gesinnung auch nicht. Die EM ist längst nicht mehr bunt, sie wird, leider, immer hässlicher, braun. Philipp Lahm kann einem leidtun. In manchen Momenten dieses Turniers ist Europa nur noch in der Ablehnung des Fremden vereint.

Quelle: ntv.de

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