Kollaps, Corona, Regenbogen Die verrückten Wochen der Fußball-EM

Stadion voll? Kein Problem! Zumindest für die UEFA.

Stadion voll? Kein Problem! Zumindest für die UEFA.

(Foto: imago images/Shutterstock)

Nur noch drei Spiele stehen bei der Fußball-EM an. Das ebenso denk- wie fragwürdige Turnier endet am Sonntag vor 60.000 Zuschauern in der Delta-Hochburg London. ntv.de blickt schon einmal zurück auf die Simulation der Normalität in Zeiten einer Pandemie.

Heute beginnen die Halbfinalspiele der Fußball-EM.

Wirklich? Wo ist sie hin die Zeit? Bald ist dieses irrwitzige, chaotische Turnier schon wieder vorbei. Das zerrissene Europa unter dem Brennglas einer paneuropäischen Pandemie-Europameisterschaft. Von Sevilla bis Baku, von Rom bis St. Petersburg. Wenn es dann vorbei ist, wird es sich die Geschichtsbücher gleichermaßen als denk- und fragwürdig eintragen. Die UEFA in der Hauptrolle. Ihre Normalitätssimulation ist krachend gescheitert. Das Virus lässt sich nicht auf Knopfdruck ausblenden. Es hat das Turnier überlagert, wie aber auch zahlreiche Scharmützel zwischen den Staaten. Die Ukraine und Russland stritten sich um ein Trikot. Der Österreicher Marko Arnautovic wurde für einen kontroversen Torjubel für ein Spiel gesperrt. Aus Griechenland kamen Proteste gegen Nordmazedonien, die Kroaten trugen bei ihren Spielen während der EURO ein Miniatur-Wappen auf den Trikots, das der faschistischen Ustascha-Bewegung zuzuordnen ist. Wurde auch erst später bemerkt.

Das war aber doch nicht alles?

Da waren noch die Kopfverletzungen der Spieler, zu denen sich die UEFA nicht äußern wollte. Da war da noch der Kollaps des dänischen Mittelfeldspielers Christian Eriksen, ein großer Schockmoment, eingefangen von den TV-Kameras. Bilder, die um die Welt gingen, sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben und die bei der UEFA schnell abgehandelt wurden. Das Spiel musste weitergehen. Entweder am selben Tag oder am nächsten Mittag. Eriksen überlebte und Dänemark surft auf einer Welle des Trotzes in die Runde der letzten Vier.

Aber das überlagernde Thema war doch etwas anderes?

Die Pandemie? Die Fans, die auf ihren Reisen das Virus aus Russland nach Finnland importierten und die ins Delta-Hauptquartier nach London reisten, um die Variante auch vermehrt in Schottland einzutragen?

Nein.

Der Greenpeace-Fallschirm-Aktivist, der über der Allianz Arena die Kontrolle über sein Fluggerät verloren haben soll? Der dann landete, Verletzte, Aufregung und großes Unverständnis hinterließ?

Nein. Der Regenbogen.

Ah. Ja, der hat sich durch das Turnier gezogen.

Wie ist denn da der Stand der UEFA-Ermittlungen in Sachen Regenbogen?

Welche Ermittlungen? Die gegen Manuel Neuer waren schnell abgeschlossen. Im Falle der Allianz Arena hat die UEFA nicht ermittelt, nur entschieden.

Nein. Die Angelegenheit in Baku, Aserbaidschan vor dem Spiel der Dänen gegen Tschechien.

Bei all den Regenbögen verliert man aber auch leicht den Überblick. Baku also: Da war es zwischen den Ordner und zwei dänischen Fans zu Unstimmigkeiten gekommen. Und die UEFA überzeugte erneut nicht durch Glaubwürdigkeit. Der auch von deutschen Politikern hofierte Staat ist nicht dafür bekannt, sich für die Rechte der LGBTIQ-Community einzusetzen. Im Vorfeld der Partie hatte sogar Volkswagen angekündigt, auf die Regenbogen-Werbebanden zu verzichten. Die Dänen machten das nicht. Ihre Fahne wurde beschlagnahmt. Später hieß es seitens der UEFA, man habe gehört, die Dänen seien betrunken gewesen. Was naturgemäß die Frage nach sich zieht, ob die Verantwortlichen vermuten, dass nur Betrunkene auf die Idee mit einer Regenbogen-Fahne kommen? Die Dänen widersprachen dann auch schnell. Die UEFA wollte ermitteln und sich bei den Dänen melden. Die haben in dieser Angelegenheit aber auch nichts mehr vom europäischen Verband gehört, teilte ein Sprecher ntv.de mit. Außerdem wolle man sich jetzt auf das Spiel gegen England konzentrieren. Verständlich. Sogar das Königspaar wird nun anreisen. Die normalen Fans haben es nicht so einfach. Tickets für Fans der Gastmannschaft gibt es in Wembley, wie zuletzt auch bei der deutschen 0:2 Niederlage, nur für in Großbritannien gemeldete Personen.

Gibt es sonst noch was in Sachen Regenbogen?

Die Allianz Arena erstrahlt jetzt doch in Regenbogenfarben. Das teilte der FC Bayern München mit. Am Samstag, anlässlich des Christopher Street Days. "Der FC Bayern möchte einmal mehr ein klares Signal aussenden, dass er für Weltoffenheit und Vielfalt steht", teilte Präsident Herbert Hainer mit. "Diskriminierung und Ausgrenzung dürfen weder im Sport noch in unserer Gesellschaft Platz haben." Ein letzter Hieb in Richtung UEFA.

Viel Kritik an der UEFA. Da will Altkanzler Schröder dabei sein. Er stimmt in den Chor der Klagenden ein, wirft der Europäischen Fußball-Union "pure Geldmacherei" vor. Sie dürfe nicht so viele Menschen in ein Stadion lassen.

Das fällt natürlich in erster Linie in den Bereich Unterhaltung. Es ist alles so viel komplizierter. Aber immerhin hat der Altkanzler sich auch geäußert. Schröder, der der sogenannten "Geldmacherei" nun auch immer mal wieder etwas abgewinnen kann, kommt mit seinem UEFA-Bashing auch einen Moment zu spät. Wie so viele andere Experten auch. Erst gestern verkündete der britische Premierminister Boris Johnson seine Pläne zur Abschaffung der Pandemie. Ab dem 19. Juli sollen alle Masken fallen, sollen alle Stadien wieder vollbesetzt werden. Johnson schafft im UK ein gigantisches Testlabor. Das würde der UEFA natürlich gefallen, kommt aber für die Europameisterschaft zu spät. Ins Wembley-Stadion dürfen bei den letzten drei Spielen der EM nur rund 60.000 Zuschauer. An Abstandsregeln müssen sie sich dort aber nicht mehr halten. Beim Tennis-Turnier in Wimbledon erwartet uns schon jetzt ein voller Centre Court, übrigens auch, wenn das Dach geschlossen wird, "Die Kapazität bleibt bei geöffnetem oder geschlossenem Dach aufgrund des Luftstrom- und Zirkulationssystems innerhalb des Stadions gleich", teilte der "All England Lawn Tennis Club" ntv.de mit.

Auf Deutschland übertragen bedeutete das: Sogar in der Schalker Arena wären Spiele vor ausverkauftem Haus wieder möglich.

Klar. Nun liegt Gelsenkirchen jedoch im Ruhrgebiet und nicht im Norden Englands. Erwarten Sie also nicht, dass Schalkes Zweitligaspiele unter dem Getöse von 62.271 Zuschauern ablaufen werden. Aber noch dürfen alle hoffen. Die Länder lassen Großveranstaltungen wieder zu. Bis zu 25.000 Zuschauer sollen erlaubt sein, in Sonderfällen sogar mehr. Trotz Delta und alledem. Aber alles bleibt an die Sieben-Tage-Inzidenz geknüpft. Bei 35 oder einem "nicht klar eingrenzbaren" Infektionsgeschehen ist es schon wieder vorbei. Blickt man rüber nach Großbritannien, ist das dann doch ein anderer Ansatz.

Müssen die, die dann vielleicht ins Stadion dürfen, zu den 3Gs zählen? Zu den Getesteten, Geimpften und Genesenen?

Das kann noch keiner sagen. Die Länder sagen: Zutritt für die 3 Gs. Bei manchen Bundesligisten gibt es jedoch aktuell Überlegungen, zumindest die Unsicherheiten, die ein Schnelltest mit sich bringt, in ihrer Planung zu eliminieren. Das heißt konkret: Es könnten zu den Spielen nur Geimpfte zugelassen werden. Wie genau der Impfstatus dann wo kontrolliert werden soll und wie der Einlass funktionieren soll, all das wird geplant. Und dann müssen die lokalen Behörden zustimmen, dann muss es das okay geben, dass Sportveranstaltungen wieder möglich sein werden. Mit Sicherheit wird die Liga den Feldversuch der britischen Regierung genauestens verfolgen.

Das ist ja alles spannend. Aber was hat das noch mit Fußball zu tun?

Fußball ist der Bereich der Unterhaltungsmaschine, in dem wir die großen Fragen unserer Zeit verhandeln und später meist sagen können: Es ist nur Fußball.

Reden wir zum Abschluss noch über sportliche Dinge?

Gerne!

Wer gewinnt die EM?

Vielleicht Italien? Die große Oper. Ciro Immobiles Schauspiel-Drama und die Perfektion des Zeitspiels haben im Spiel gegen die Belgier imponiert. Sie sind die stabilste Mannschaft des Turniers und die, die am meisten begeistern. Oder werden es die Spanier? Die sich gegen in Unterzahl spielende Schweizer in die Verlängerung schleppten. Ihnen fehlt noch der Drive, trotz des großen Sieges gegen Kroatien, diesem wundersamen 5:3 in der Verlängerung. Oder sind es die Dänen, die wie 1992 niemand auf der Rechnung hat und die von der Eriksen-Welle getragen werden? Oder doch die Engländer? Kommt der Fußball wirklich nach Hause? Die Trikots sind ausverkauft, die Euphorie groß, Trainer Gareth Southgate wird sogar zugetraut, das seit Jahren in sich zerrissene Land zu einen. Die Kraft hatte Joachim Löw nicht mehr.

Wie lässt sich das Turnier in einem Satz zusammenfassen?

Umarmen Sie das Chaos!

Quelle: ntv.de

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