Fans demütigen Niklas Süle Die erschreckende Gleichgültigkeit des FC Bayern
09.05.2022, 11:09 Uhr
Niklas Süle musste Schmähgesäne über sich ergehen lassen.
(Foto: IMAGO/Plusphoto)
Der FC Bayern stemmt die Meisterschale in den Himmel. Doch statt ausgelassen zu feiern, ist der Klub mit sich selbst beschäftigt. Das Spiel gegen den VfB Stuttgart offenbart zahlreiche Probleme des Rekordmeisters, der sich in diesem Sommer verändern muss.
Auch Hasan Salihamidžić war in der vergangenen Woche zu einem Mini-Trip auf die Balearen geflogen. In dieser Nachricht steckt natürlich höchste Brisanz. Denn die Inselgruppe im Mittelmeer ist in diesen Tagen der Inbegriff alles Bösem beim FC Bayern, ja vielleicht sogar in der Fußball-Bundesliga. Nach der unrühmlichen 1:3-Niederlage gegen den FSV Mainz am vorvergangenen Wochenende hatten sich zahlreiche Stars des Rekordmeisters für eine Auszeit nach Ibiza verabschiedet (Teambuilding war das Stichwort), während Hertha-Coach Felix Magath eine Debatte darüber anstieß, ob die Münchner Fußballer im Endspurt noch die Ernsthaftigkeit des Wettbewerbs in sich spüren.
Felix Magath dürfte die sportliche Antwort des FC Bayern auf seine Kritik nicht gefallen haben. Statt sich für die Übergabe der Meisterschale am späten Sonntagabend in die glücklichste Verfassung zu spielen, wackelte sich die Mannschaft zu einem 2:2 gegen den VfB Stuttgart. Für die Schwaben ein Coup, denn sie spielen am 34. Spieltag nicht nur noch um die Relegation (gegen den 1. FC Köln), sondern reißen Hertha BSC (bei Borussia Dortmund) sogar noch in einen echten Showdown um den direkten Klassenerhalt. Die Münchner werden das nur aus dem Augenwinkel betrachten. Sie haben ganz andere Sorgen.
Und die sind alles andere als klein. Wie der "Kicker" berichtet, steht bald eine schonungslose Analyse an. In dem Bericht ist sogar von einer "Art Zäsur" die Rede. Man wird dann nicht nur die zweite Pokal-Peinlichkeit in Serie aufarbeiten (0:5 gegen Borussia Mönchengladbach), sondern sich auch fragen, warum nach dem Champions-League-Knockout gegen den FC Villarreal eine erschreckende Gleichgültigkeit in diesen Kader gefahren ist.
Wie seltsam die Stimmung in München derzeit ist, damit wurde man am Sonntag konfrontiert. Die Übergabe der Meisterschale wirkte ritualisiert, bemüht euphorisch. Wie ein DJ, der irgendwie versucht, die Gäste im Club auf die Tanzfläche zu zerren. Doch anders als in den Tanz-Tempeln des Landes, wo die Ekstase nach den Pandemie-Einschränkungen nicht nachlassen will, bräuchte der Tanz in den Mai in München ein neues Konzept. Verzichtbar dabei: Hohn und Spott fürs eigene Personal. So wurde Abwehrspieler Niklas Süle mit "BVB H….söhne"-Gesängen (er wechselt zum BVB) gedemütigt, nachdem ihn die Fans vor der eigenen Kurve auf den Zaun geholt hatten. Zarter Balsam: Wenig später gab es immerhin noch Sprechchöre mit seinem Namen.
Überraschend harte Kritik an Süle
Niklas Süle, wer hätte das gedacht, wird im letzten Heimspiel der Saison zum großen Thema. Zur Reizfigur sogar. Trainer Julian Nagelsmann setzte ihn, wie angekündigt, nur auf die Bank. Für den Nationalspieler startete Tanguy Nianzou, das französische Talent, über das in München alle rätseln. Taugt der 19-Jährige für die weiter großen Ansprüche des Rekordmeisters? Aktueller Status: eher nicht. Der Innenverteidiger war der schwächste Mann auf dem Platz und wurde nach 63 Minuten gegen Süle ausgetauscht. Ausgerechnet (sorry) gegen Süle. Den hatte der Trainer vor Anpfiff überraschend hart angezählt. Bei DAZN sagte Nagelsmann: "Niklas hatte in der vergangenen Woche seine Chance gegen Mainz. Die hat er nicht genutzt, er hat dort schlecht gespielt." Hätte er, Süle, sich voll reingehauen, so der Coach, hätte er gespielt. Aber es gelte eben das Leistungsprinzip.
Der Fall Süle, er zeigt ziemlich gut, wie angespannt und zerrissen die Lage beim FC Bayern derzeit ist. Die zehnte Meisterschaft in Serie, die in Europa sonst nur Vereine aus Gibraltar und Lettland feiern, tröstet kaum darüber hinweg, dass die Münchner um ihren Status als Gigant sehr kämpfen müssen. Weniger in der Bundesliga als international, wo die Konkurrenz von Investoren zu Triumphen gepampert wird. Der Rekordmeister sucht die richtige Strategie, um sich in diesem lauten Konzert der Scheichs und Oligarchen weiter zu behaupten. Dass ein mit 26 Jahren noch junger Nationalspieler, dazu der Chef der Abwehr, zum größten Liga-Rivalen abwandert, das passt nicht zum Selbstverständnis des Klubs. Dieses Selbstverständnis, das einst Patriarch Uli Hoeneß ausgerufen hatte, besagt, dass die besten Spieler des Landes beim Rekordmeister unter Vertrag zu stehen haben.
Nun haben sie in München mit Süle immer (wieder) gehadert. Sie haben sein gewaltiges Potenzial gesehen, aber eben auch, dass sein Lebenswandel nicht immer höchst professionell war. Die Geschichte des Hünen ist eine zwischen schon höchster Anerkennung und nicht verstummenden Zweifeln. Und sie ist eine, die in München inhaltlich weitererzählt werden wird. Auch ohne Süle. Die neuen (alten) Protagonisten um Dayot Upamecano und Lucas Hernández bewegen sich nämlich im gleichen Spannungsfeld wie Süle. Ihr Potenzial gilt als riesig, ihre Leistungen als zu schwankend. Eine Baustelle in diesem Sommer.
Verdammt viele Baustellen
Eine von vielen. Im Kader ist nicht nur viel Bewegung, sondern auch gleichermaßen viel Unruhe. Wie geht es weiter mit Robert Lewandowski? Was wird aus Serge Gnabry? Beide Spieler stehen noch bis Sommer 2023 unter Vertrag, sind für den Verein eigentlich unverzichtbar, liebäugeln aber mit neuen Herausforderungen. Sportlich, aber offenbar auch finanziell. Ein leidiges, aber großes Thema beim FC Bayern. Nicht erst seit den gescheiterten Verhandlungen mit David Alaba, der nun mit Real Madrid völlig überraschend um die Krone des europäischen Vereinsfußballs spielt. Alte Helden halten, neue Stars verpflichten, den Druck im Kader erhöhen, die monetäre Balance halten - was für eine große Herausforderung vor dem Hintergrund der finanziellen Einschränkungen, die Salihamidžić vor ein paar Wochen öffentlich gemacht hatte.
Der Sportdirektor steuerte bei seinem Mini-Trip auf die Balearen übrigens nicht Ibiza an, wo sich die Mannschaft zur "teambildenden Maßnahme" versammelt hatte, sondern flog nach Mallorca. Dort entdeckte ihn der Boulevard zwar auch in einer Tanzstube, allerdings hatte der mächtige Mann des FC Bayern auf der Partyinsel offenbar gut zu tun. Gleich mehrere Berater soll er getroffen haben. Unter anderem jenen, der auch Leroy Sané betreut. Ob es um den Nationalspieler ging - oder um einen anderen Fußballer? Unklar. Aber ein paar Sätze über Sané werden schon gefallen sein, der kämpft nämlich in München wieder einmal um Form und seinen Ruf. Nach einer bemerkenswerten Hinrunde fiel der Flügelstürmer in seinen Leistungen ebenso bemerkenswert ab. Das brachte ihm bei den Bossen sehr deutliche Kritik ein - und wird sicher nochmal zum Thema werden.
In der Analyse der Saison soll alles zur Sprache kommen, was nicht gut gelaufen ist. Und dabei geht es nicht nur um Timing und Kommunikation wie beim "Ibiza-Gate". Das war im Prinzip nur die Schlusspointe auf eine extrem unruhige Spielzeit mit Corona-Sorgen, mit Impfverweigerungen (mittlerweile abgehandelt), mit der Katar-Frage, die den Klub spaltete, und mit einer Führung um Oliver Kahn und Salihamidžić, die in der gewaltigen Erb-Lücke von Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge verzweifelt nach Halt und Haltung sucht. Und in der Nagelsmann immer und immer wieder als Kommunikator gefragt war. Was womöglich auch zulasten der Kernarbeit ging.
Kritik an Nagelsmann
Laut "Kicker" fremdeln nämlich mehrere Stars mit der Arbeit von Nagelsmann, mit den (zu) komplexen Übungen im Training, mit der zu offensiven Ausrichtung und mit der zu schnellen Sprache des Trainers. Das gilt vor allem für nicht muttersprachliche Spieler. Aber auch Salihamidžić wird Druck bekommen. Mit Noussair Mazraoui, von Ajax Amsterdam, scheint ein neuer Rechtsverteidiger gefunden. Er soll in Konkurrenz mit dem französischen Weltmeister Benjamin Pavard treten, der womöglich ins Zentrum versetzt werden soll. Dort bleibt ungeachtet dessen die Frage nach dem Abwehrchef ungeklärt. Denn auch der eher ruhige Pavard scheint das nicht zu sein.
Andere Frage: Wohin mit Kimmich? Die Diskussion darum, ob er Sechser oder Achter ist, verstummt nicht. Die Gerüchte um Konrad Laimer, den sehr umworbenen und laufstarken Abräumer von RB Leipzig, passen dazu. Die ausgemachten Probleme im Gegenpressing könnten zwar mit dem vorhandenen Personal gelöst werden, "aber ich habe nichts dagegen, wenn wir ein, zwei Pressingmaschinen kaufen", sagte Nagelsmann. "Wenn Sie eine Idee haben, einfach eine E-Mail schreiben, da kriege ich eh jeden Tag 50 Stück mit Transfervorschlägen, da sind zwei mehr auch nicht schlimm. Aber Spaß beiseite: Es ist nie schlecht, Pressingspieler zu haben."
Viel Arbeit für den Sportdirektor, der aber bereits Erwartungen an einen zu großen Umbruch dämpft. "Ich glaube total an die Mannschaft. Wir lieben diese Jungs", schwärmte er am Sonntagabend. "Das sind tolle Jungs. Und die werden im nächsten Jahr Gas geben." Auch Thomas Müller beschwor die Kraft des Rekordmeisters und wollte nicht an den "Weltuntergangsszenarien" mitzeichnen, die derzeit in vielen TV-Think-Tanks (sprich Stammtischen und Expertenrunden) entworfen werden. "Es muss keiner Angst haben um den FC Bayern", bekannte Müller.
Quelle: ntv.de