Die Flucht der Afghaninnen Jeder Torschuss ein Schlag ins Gesicht der Taliban
21.08.2022, 18:53 Uhr
Die afghanischen Fußball-Nationalspielerinnen haben mittlerweile bei Melbourne Victory eine neue Heimat gefunden.
(Foto: Melbourne Victory)
Vor einem Jahr versteckt sich Afghanistans Fußball-Nationalteam der Frauen am Flughafen in Kabul vor den Taliban. Nach einer dramatischen Flucht erreichen die Fußballerinnen Australien, wo sie auf spezielle Weise gegen den Terror in der Heimat kämpfen. Eine Geschichte über Familie, Mut - und Sergio Ramos.
Ein Jahr ist es her, dass die Taliban Afghanistan überrennen. Nachdem die internationalen Truppen abgezogen sind, ist das gesamte Land zum zweiten Mal nach dem Regime von 1996 bis 2001 unter der Kontrolle der radikalen Islamisten. Verzweifelt versuchen daraufhin Tausende, ihre Heimat zu verlassen. Etwa am Grenzübergang nach Pakistan oder am Flughafen in Kabul kommt es zu dramatischen Szenen. Mittendrin in den Tagen der Angst und am Flugfeld in der Hauptstadt: das afghanische Fußball-Nationalteam der Frauen samt ihrer Innenverteidigerin Mursal.
"Ich versteckte mich zu Hause - so wie alle meine Teamkolleginnen", erzählt die 19-Jährige, die nun in sicherer Entfernung zu den Taliban in Australien lebt, im Videocall mit ntv.de von dem Tag der Machtübernahme durch die Terrorgruppe. "Einige von uns haben Nachrichten aufs Handy bekommen von Leuten, die sagten, sie würden uns an die Taliban ausliefern, weil wir Fußballspielerinnen seien."
Die radikalen Islamisten erlauben Frauen und Mädchen keinerlei Sport, geschweige denn Fußball. Mursal erzählt, wie die neuen Machthaber sich beim afghanischen Fußballverband sogar die Spielerinnen-Akten besorgen. Wie die Angst wuchs, entdeckt, gefangen - und getötet zu werden. "Jedes mal, wenn ich mit meinen Mitspielerinnen per Videocall telefonierte, sahen wir gegenseitig den Horror in unseren Augen", erinnert sie sich. "'Was sollen wir nur tun?', dachten wir verzweifelt." Die Spielerinnen hasten von Safe House zu Safe House. Immer in der Gefahr, entdeckt zu werden.
"Man konnte uns auf Google finden"
Die Fußballerinnen nehmen Kontakt mit Khalida Popal auf, der ehemaligen Kapitänin des Nationalteams, die wegen Bedrohungen durch die Taliban ihre Heimat schon 2016 ins Exil nach Dänemark verlassen musste. Zusammen mit der ehemalige Trainerin der Nationalelf, Kelly Lindsey, der Ex-Assistenztrainerin und ehemaligen US-Marine Haley Carter, der Menschenrechtsanwältin Kat Craig sowie Vertretern der internationalen Spielergewerkschaft FIFPro kann Popal Australien dazu bewegen, den Spielerinnen Visa auszustellen. Sie waren auf das Netzwerk angewiesen. Es bot ihnen emotionalen, aber eben auch logistischen Beistand. Aus der Sicherheit der eigenen vier Wänden übernahmen die Unterstützer das, was die Spielerinnen nicht leisten konnten.
Nach einer Woche im Versteck macht sich das Frauen-Nationalteam auf in Richtung Flughafen. "Die Taliban waren überall, wir hatten riesige Angst und viele von uns weinten", erzählt Mursal. "Wir versuchten, unsere Gesichter zu verstecken, indem wir Mund-Nasen-Schutzmasken und Hijabs trugen. Schließlich waren Bilder von uns im Umlauf, man konnte uns auf Google finden."
Nach "sehr harten Tagen" in Angst am Flugfeld dürfen Mursal und ihre Mitspielerinnen schließlich eine Maschine borden. Carter, die US-Marine, hatte in langen Reden den Militärs erklärt, warum die Fußballerinnen außer Land gebracht werden mussten. Es geht in ein Camp für Geflüchtete in Dubai. "Dort fürchteten wir uns weiter, weil wir nicht wussten, ob wir vielleicht doch zurück nach Afghanistan müssen, weil der Prozess mit den Papieren nicht funktioniert."
Als schließlich die Einreise nach Australien gelingt, kann Mursal zwar aufatmen, "doch wir spürten auch enormen Druck, denn unsere Familien waren ja noch in Afghanistan. Sie baten uns, nichts in den Sozialen Medien zu posten, weil das für sie vor Ort sehr gefährlich geworden wäre." Drei Monate später wird Mursals Bruder, der ein Soldat der afghanischen Armee war, von den Taliban entführt. Er kann nach 13 Tagen entkommen und berichtet seiner Schwester, dass die Terrorgruppe auch sie erwähnte und ihm vorwarf, ihr das Fußballspielen erlaubt zu haben. Mursals gesamte Familie flieht daraufhin in den Iran. Nur deshalb kann sie nun offen sprechen.
"Du bist mit dem Fußball verheiratet"
Mursal durchlebt einen emotionalen, "sehr schweren" Konflikt. Ein Trauma nach dem Trauma. Für ihre Sicherheit und ihre Freiheit muss sie ihre gesamte Familie zurücklassen, seitdem getrennt von Mutter, Vater und Bruder leben und sich einen zusätzlichen Job suchen, um Geld in den Iran zu schicken. Nur, weil sie Fußball liebt. Und wie sie das tut.
Alles, was Mursal als Heranwachsende in Afghanistan will, ist Fußball spielen. "Fußball, das waren alle unsere Hoffnungen und Träume vereint", erzählt sie. "Fußball ist meine erste Liebe." Anfangs stellt sich ihre Familie gegen ihre neue Leidenschaft, erklärt ihr, dass in der afghanischen Kultur Mädchen nicht Fußball spielen würden. Doch Mursal lässt sich davon genauso wenig entmutigen, wie von den Leuten, die sie beschimpfen auf dem Weg zum Training. Die bereits vor dem erneuten Taliban-Regime den Frauen-Fußball verbieten wollen.
Eine besondere Liebe hegt die Innenverteidigerin alsbald für den FC Barcelona - und für Sergio Ramos, der Jahrelang ausgerechnet für Barças Rivalen Real Madrid verteidigte und nun für Paris Saint-Germain spielt. Mursals Augen strahlen, wenn sie von der legendären Nummer 4 spricht, die sie natürlich ebenfalls auf dem Trikot trägt: "Ramos ist der beste Abwehrspieler, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Wir spielen dieselbe Position und ich schaue mir immer Videos von ihm an."
"Einmal sagte meine Mutter zu mir: 'Du bist mit dem Fußball verheiratet'". Stimmt, antwortet die 19-Jährige heute, und lacht. Doch ganz anders sieht ihre Gefühlslage aus, als die Taliban ihr den Traum und die Hoffnung von einer Fußballkarriere, von ihrer Leidenschaft rauben. "Mein Herz zerbrach. Ich weinte die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen." Einer der Gedanken, der ihr bei der Flucht am Flughafen in Kabul ständig durch den Kopf schießt: "Was, wenn wir nie wieder Fußball spielen dürfen?"
Bayern München Australiens
Doch es kommt alles anders. In Australien - während sie Arbeit suchen, zur Schule gehen, sich mit einer neuen Sprache, Kultur und einem neuen Leben auseinandersetzen - mutieren die Frauen dank ihres Muts, ihrer Kraft und dank engagierten Helferinnen und Helfern zu Symbolen der Hoffnung und Stärke. Zu einer Stimme für afghanische Frauen und Geflüchtete weltweit. Obwohl das Trauma noch tief sitzt, beginnen Mursal und ihre Freundinnen wieder mit dem Fußball spielen. Die Chance dazu gibt ihnen der Verein Melbourne Victory, der FC Bayern München des australischen Fußballs.
Craig Foster, ein ehemaliger australischer Nationalspieler, der nach seiner aktiven Karriere zu einem Menschrechtsaktivisten wurde, ist fehlende Mosaiksteinchen der Helfenden um FIFPro-Geschäftsführer Jonas Baer-Hoffmann. John Diulica, der Sportdirektor von Melbourne Victory, bietet Foster seine Hilfe an und Anfang Februar 2022 erhält er den Anruf. "Sie mussten sich erst einmal an die neue Situation gewöhnen. Aber irgendwann trafen sie Entscheidung, als Team und unter der Flagge Afghanistans zu spielen. Craig kontaktierte mich. Und wir sahen es als unsere Verantwortung an, diesen jungen Frauen zu helfen", erzählt Diulica im Gespräch mit ntv.de.
Der Verband lässt das Team schnell zu und auch die FIFA erteilt die Spielgenehmigungen. "Es ist wie bei einem Wechsel von der Bundesliga in die Premier League", erklärt Diulica. Doch natürlich ist es kein Wechsel zwischen zwei europäischen Top-Ligen, sondern vielmehr einer, der für die Spielerinnen selbst größte Gefahr birgt. Ihre Namen sollen nicht nach Afghanistan gelangen. Die zurückgebliebenen Familien fürchten Repressionen. Doch die Registrierung gelingt, weil alle helfen, weil alle wollen, dass diese Frauen wieder Fußball spielen können.
Jubeln wie Cristiano Ronaldo
Die Spielerinnen bekommen keinen Wald- und Wiesen-Trainer, sondern den erfolgreichsten der australischen Frauen-Fußballgeschichte, Jeff Hopkins. "Als wir dann als Team akzeptiert waren - das war ein unglaublicher Moment für uns. Es ist das erste Mal, dass wir in einem so professionellen Umfeld trainieren und spielen können", sagt Mursal.
Im ersten Spiel geht es im April gegen eine Elf, die in den 1980er-Jahren von Flüchtenden aus Ost-Timor gegründet wurde. Es endet 0:0. Das zweite Spiel gewinnen die Afghaninnen 10:0. Nach ihren Toren rutschen sie auf den Knien, drehen sich jubelnd ab wie Cristiano Ronaldo. Sie eifern ihren Vorbildern nach und für einen Moment ist alles vergessen. "Das waren wunderschöne Momente", sagt Diulicia. All das, erklärt er, gebe dem Spiel eine neue Bedeutung. Eine, die weit über die 90 Minuten auf dem Platz hinausgeht.
"Wenn wir das Fußballfeld betreten, schicken wir eine Nachricht an alle Mädchen weltweit", erklärt auch Mursal. Auch wenn es harte Tage gebe und man denke, "alle ist vorbei", könne man die Nöte trotzdem überwinden und das Böse besiegen. "Wir sind die Stimme für die Stimmlosen", sagt sie stolz. "Jedes Mädchen besitzt diese spezielle Kraft und kann die größten Dinge tun, wenn es nur eine Chance bekommt."
Chancen und Möglichkeiten, die Mädchen und Frauen in Afghanistan nun wieder verwehrt bleiben. Während sie in den vergangenen 20 Jahren die Schule besuchen durften, ist jetzt alles nach der Grundschule verboten. Verschleierung ist Gesetz, in vielen Gegenden des Landes sogar die Burka. In einem neuen Bericht warnt die internationale Hilfsorganisation World Vision, dass Afghanistans Kinder, besonders die Mädchen, von Hungertod, Kinderarbeit und Zwangsheirat bedroht sind.
"Fußball ist unser ein und alles"
Während die Weltöffentlichkeit den Kindern und der schlimmen humanitären Katastrophe in Afghanistan zum Jahrestag der Machtübernahme durch die Taliban nun kurz Beachtung schenkt, ist diese harsche Realität weiter Alltag für Mursal. Denn mit vielen Frauen und Mädchen vor Ort - auch mit ein paar Fußballerinnen vom Nationalteam, denen eine Flucht nicht gelang - tauscht sie sich rege aus. "Sie verstecken sich immer noch und sie dürfen nicht Fußball spielen. Das ist verdammt schmerzhaft. Sie fragen mich: 'Mursal, gibt es irgendeinen Weg, wie wir Afghanistan verlassen können und Fußball spielen können so wie du?'".
Sie könne ihnen leider nicht helfen, sagt Mursal. Und deshalb spiele sie für all diese Frauen und Mädchen Fußball. "Wir wollen eine Stimme sein für die, die nichts gegen die Taliban sagen dürfen. Wir wollen der Welt sagen: Bitte helft ihnen, sie brauchen die Hilfe wirklich dringend." Wie alle anderen Mädchen müssen auch die Afghanistans die Chance haben, das normale Leben von Kindern zu leben, zu lernen - und (Fußball) zu spielen.
Auch damit diese jungen Frauen und Mädchen niemals in Vergessenheit geraten, jagen Mursal und ihre Mitspielerinnen in Australien bei Melbourne Victory weiter ihren Traum. Ohne ihre Heimat. Ohne ihre Familien. Ohne ihre Liebsten. Der Fußball wird zu einer Art Ersatzfamilie für sie, Teamkolleginnen werden zu Schwestern. "Wir sind weit weg von unseren Familien, aber wir haben den Fußball", sagt Mursal. "Fußball ist unser ein und alles."
Quelle: ntv.de