"Collinas Erben" resümieren Ernster Fröhlich konstatiert Schiedsrichter-Krise
14.11.2022, 08:02 Uhr

Lutz-Michael Fröhlich will nicht alle Entscheidungen der Schiedsrichter verteidigen.
(Foto: imago images / Martin Hoffmann)
In der letzten Bundesligapartie dieses Jahres zwischen dem SC Freiburg und Union Berlin gibt es gleich vier Elfmeter, aber nicht alle sind unstrittig. Die Schiedsrichter wollen die längere Winterpause nutzen, um ein für sie nicht zufriedenstellendes Halbjahr aufzuarbeiten.
Unglücklich dürften die Bundesliga-Schiedsrichter und ihre sportliche Leitung nicht darüber sein, dass durch die Weltmeisterschaft in Katar die Winterpause deutlich länger dauert als sonst. So bleibt Zeit, um den bisherigen, für die Unparteiischen arg holprigen Saisonverlauf zu analysieren, über den auch Lutz Michael Fröhlich, Geschäftsführer Sport und Kommunikation der DFB Schiri GmbH und damit Schiedsrichter-Chef, sagt: "Man kann nicht zufrieden sein. Es gibt zu viele Baustellen. Man kann von einer kleinen Krise sprechen." Es gebe "viel Kritik und viele Situationen, die nicht gut gelöst wurden im Zusammenspiel mit den Video-Assistenten", so Fröhlich in der Talksendung "Doppelpass".
Zu häufig waren die Referees und ihre Helfer in der Kölner Videozentrale zuletzt in der Diskussion: wegen manch strittiger Auslegung der Abseitsregel bei Torerzielungen - erst beim "Sichtlinienabseits", später beim "deliberate play" -, wegen Fehlern bei der Bewertung von Handspielen, wegen eines teilweise nicht stimmigen Maßes bei den persönlichen Strafen und wegen Versäumnissen des VAR. Sicher am gravierendsten vor zwei Wochen, als Eintracht Frankfurt in der Partie gegen Borussia Dortmund einen klaren Strafstoß nicht bekam. Ohnehin ist die Instanz Video-Assistent - wenn auch längst nicht nur in Deutschland - viel zu häufig ein Thema, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich nur eine Absicherung sein soll, um schwere Fehler zu verhindern.
Positiv ist dagegen, dass die Schiedsrichter seit Saisonbeginn wesentlich häufiger als zuvor bereit finden, gegenüber der Öffentlichkeit manche Entscheidung zu erläutern. Diese Transparenz hilft beim Verstehen, auch und gerade dann, wenn man als Zuschauer nicht einverstanden mit einer Entscheidung ist. Die Bundesligapause will die sportliche Leitung der Unparteiischen vor allem dazu nutzen, die Video-Assistenten intensiver zu schulen. Unter anderem sollen Spielszenen mit einem Online-Tool bewertet werden und Workshops auch mit ehemaligen Profifußballern stattfinden, um die Bewertung von Zweikämpfen zu verbessern. Zudem gibt es Überlegungen, häufiger mit festen Teams aus Schiedsrichtern und VAR zu arbeiten.
Der erste Strafstoß für Freiburg ist ein "Fernsehelfmeter"
Das Spitzenspiel zwischen dem SC Freiburg und Union Berlin (4:1) war die letzte Bundesliga-Partie in diesem Jahr, und sie begann furios. Nach nicht einmal einer Minute scheiterte der Freiburger Ritsu Doan mit einem Kopfball an Torwart Lennart Grill, doch die Gastgeber bekamen unerwartet eine zweite Chance. Denn bei der Hereingabe von Christian Günter auf Doan hatte Christopher Trimmel den Ball minimal mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand berührt, unbemerkt nicht nur von Schiedsrichter Deniz Aytekin, sondern auch von so ziemlich allen anderen auf dem Feld und den Rängen. Niemand protestierte, auch deshalb, weil der Ball seine Richtung nicht verändert hatte und Doans Torchance somit nicht im Geringsten beeinträchtigt wurde.
Doch aus Köln meldete sich VAR Tobias Welz bei Aytekin, es kam zum On-Field-Review, danach gab es einen Strafstoß für den SC Freiburg, den Vincenzo Grifo zum 1:0 verwandelte. Regeltechnisch ließ sich das alles begründen: Trimmels Armhaltung konnte man als unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche bewerten und den Eingriff damit rechtfertigen, dass dem Referee das Handspiel offenkundig verborgen geblieben war. Allerdings hatte Welz' Intervention etwas Detektivisches, das dem eigentlichen Sinn und Zweck des VAR nicht entsprach. Aus fußballerischer Sicht ließe sich zudem einwenden, dass den Freiburgern, insbesondere Doan, durch den kaum wahrnehmbaren Streifkontakt mit den Fingerspitzen nicht der kleinste Nachteil entstand.
Letztlich gab es hier einen "Fernsehelfmeter", der nicht zwingend war und unverhältnismäßig wirkte, zumal der Schiedsrichter hier keinen wirklich schwerwiegenden Vorfall übersehen und auch keinen klaren und offensichtlichen Fehler begangen hatte. Nach nur acht Minuten gab es den zweiten Strafstoß, diesmal für die Gäste und unzweifelhaft zu Recht, denn Nicolas Höfler hatte Sheraldo Becker im Sprung mit dem Fuß in die Wade getreten. Aytekin entschied erst auf Freistoß, verortete das Foulspiel also außerhalb des Strafraums, korrigierte sich nach Rücksprache mit seinem Assistenten Christian Dietz aber umgehend und sprach den Berlinern einen Elfmeter zu. Robin Knoche scheiterte jedoch am Pfosten.
Aytekin diesmal mit ungewohnt strenger Linie
Zehn Minuten später zeigte der Referee bereits zum dritten Mal in dieser Begegnung auf den Elfmeterpunkt, diesmal wieder für die Hausherren. Vorausgegangen war im Strafraum des 1. FC Union ein Zweikampf zwischen Diogo Leite und dem ballführenden Doan, bei dem der Berliner seinen Gegner ein wenig an der Schulter hielt und auch leicht an der linken Fußseite traf. Der Freiburger ging zu Boden, wohl nicht nur wegen dieser Impulse, doch es passte zu Aytekins diesmal ungewohnt strenger Linie bei der Zweikampfbewertung, dass er Diogo Leites Einsatz als Foulspiel bewertete. Da Doan kurz vor dem Gehäuse der Gäste eine offensichtliche Torchance hatte und man seinem Gegenspieler nicht zugutehalten konnte, um den Ball gekämpft zu haben, war die Rote Karte folgerichtig. Grifo nutzte auch diesen Elfmeter und traf zum 3:0 ins Tor.
Wenige Minuten vor dem Schlusspfiff gab es sogar noch einen vierten Strafstoß, den zweiten für die Berliner. Yannik Keitel hatte Danilo Doekhi klar festgehalten und ihn so daran gehindert, zum Ball zu laufen. Sven Michel verwandelte den Elfmeter zum 4:1-Endstand. Es waren also nicht alle Strafstöße in diesem Spiel unstrittig, und man sah, wie wichtig es gerade dann ist, als Unparteiischer über Akzeptanz zu verfügen und den Spielern in kritischen Situationen die Gründe für eine Entscheidung transparent zu machen. Dadurch dämmte Deniz Aytekin mögliche Proteste ein und verhinderte, dass sich die Spieler gegen ihn wenden.
Referee Jablonski überzeugt in Gladbach
Eine überzeugende Leistung bot Schiedsrichter Sven Jablonski am Freitagabend in der Auftaktpartie dieses Spieltags zwischen Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund (4:2). Auch in den beiden kniffligsten Situationen lag er am Ende richtig, bei einer davon infolge einer guten Kooperation mit seinem VAR Günter Perl. Nach 66 Minuten köpfte Mats Hummels nach einem Eckstoß den Ball im Strafraum der Gladbacher aus kurzer Distanz an den Unterarm von Ramy Bensebaini. Doch dem Verteidiger, der den Ball zuvor verfehlt hatte, war eine unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche nun wirklich nicht vorzuwerfen. Er hatte seine Arme vielmehr in einer Position, wie sie für eine Sprungbewegung normal ist. Jablonski ließ deshalb zu Recht weiterspielen.
Zwei Minuten später schien es zunächst, als hätte Hummels den Ball in der Mitte der eigenen Hälfte beim Versuch, ihn zu seinem Torwart Gregor Kobel zurückzuspielen, durch einen technischen Fehler an den herbeigeeilten Marcus Thuram verloren. Der Gladbacher lief danach ungehindert auf das Tor des BVB zu und passte die Kugel schließlich zu Jonas Hofmann, der zum vermeintlichen 5:2 traf. Doch Video-Assistent Perl bemerkte bei der Überprüfung, dass der Ballverlust von Hummels dadurch zustande gekommen war, dass Thuram dem Dortmunder einen kleinen - und auf dem Feld für den Referee schwer zu erkennenden -, aber wirksamen Tritt unter die Sohle verpasst hatte. Deshalb empfahl er Jablonski ein On-Field-Review, das richtigerweise in der Annullierung des Treffers mündete.
Die Samstagsspiele verliefen für die Schiedsrichter und ihre Video-Assistenten insgesamt ebenfalls ohne größere Kontroversen, was angesichts der bisweilen ausufernden Debatten im Laufe der Hinrunde eine gute Nachricht ist. Dennoch gibt es nun einiges aufzuarbeiten, besonders im Zusammenwirken von Unparteiischen und VAR. Auch wenn es in anderen Ländern und Ligen ganz ähnliche Diskussionen gibt: Dass die Video-Assistenten, die eigentlich nur im Hintergrund arbeiten sollen, oftmals so im Mittelpunkt stehen, ist ein unhaltbarer Zustand.
Quelle: ntv.de