"Collinas Erben" sind schockiert Warum der Abbruch in Bochum alternativlos war
21.03.2022, 06:35 Uhr

Der Spielabbruch war alternativlos.
(Foto: IMAGO/Uwe Kraft)
Die Unparteiischen in der Bundesliga haben ein schwieriges Wochenende hinter sich. In Mainz versagt überraschend die Torlinientechnologie. Der Referee und sein VAR reagieren perfekt. Schlimmeres geschieht in Bochum: Nach einem Becherwurf gegen den Schiedsrichter-Assistenten wird das Spiel abgebrochen.
Ein jähes und - so viel lässt sich ohne Übertreibung sagen - skandalöses vorzeitiges Ende erfuhr die Auftaktpartie zum 27. Spieltag der Fußball-Bundesliga zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach am Freitagabend. In der 69. Minute traf während des laufenden Spiels ein von der Tribüne aus geworfener, gefüllter Getränkebecher den Schiedsrichter-Assistenten Christian Gittelmann mit voller Wucht am Hinterkopf. Der 39-Jährige war sichtlich benommen, der Unparteiische Benjamin Cortus verließ mit ihm, dem anderen Assistenten Florian Heft und dem Vierten Offiziellen Norbert Grudzinski umgehend das Feld und ging in die Kabine.
Dort traf das Gespann den Entschluss, die Begegnung abzubrechen. Gittelmann wurde in ein Krankenhaus gefahren, wo man eine Schädelprellung und ein Schleudertrauma diagnostizierte. "Alternativlos" nannte Cortus später im Interview seine Entscheidung, das Spiel nicht wieder anzupfeifen. Zur wortgleichen Bewertung kamen der sportliche Leiter der Bundesliga-Referees, Lutz Michael Fröhlich, und DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner. In der Bundesliga war zuletzt im April 2011 eine Partie abgebrochen worden, nachdem ein Mitglied des Schiedsrichterteams von einem Gegenstand getroffen worden war. Auch damals, im Spiel FC St. Pauli - FC Schalke 04, war es ein aus dem Publikum geworfener Bierbecher, der den Assistenten Thorsten Schiffner im Nacken traf.
Bei einem Angriff auf die Unparteiischen bleibt nur der Spielabbruch
Ebenfalls vorzeitig beendet wurden in der jüngeren Vergangenheit die DFB-Pokal-Begegnungen VfL Osnabrück - RB Leipzig im August 2015 und Stuttgarter Kickers - Hertha BSC im Oktober 2006. In Osnabrück hatte ein Zuschauer Schiedsrichter Martin Petersen ein Feuerzeug an den Kopf geworfen, in Stuttgart wiederum ein Bierbecher den Assistenten Kai Voss niedergestreckt. Nur sehr theoretisch wäre es möglich, ein Mitglied des Schiedsrichterteams, das bei einem Angriff verletzt wird, durch den Vierten Offiziellen zu ersetzen wie bei einer Verletzung ohne Gewalteinwirkung. In der Praxis brechen die Unparteiischen das Spiel nach einer Attacke auf einen Spieloffiziellen so gut wie immer ab.
Und das ist auch genau richtig so. Wenn ein Unparteiischer - der den Fußballregeln Geltung zu verschaffen hat und auf dem Feld gewissermaßen Polizist, Staatsanwalt und Richter in Personalunion ist, also die uneingeschränkte Autorität auf dem Platz darstellt - tätlich angegriffen und dabei sogar verletzt wird, muss das Spiel sofort zu Ende sein. In allen Spielklassen. Das Gleiche gilt, wenn ein Assistent des Schiedsrichters attackiert wird. "Fassungslos" mache ihn die Tat, sagte Christian Gittelmann. Zwar sei es ein einzelner Täter gewesen, aber es gebe "zu viele 'Einzelfälle'" im Fußball, und bereits bevor er getroffen worden sei, seien "immer wieder Gegenstände Richtung Spielfeld" geflogen.
Der mentale Schaden ist oft größer als der körperliche
Nun muss die Sportgerichtsbarkeit des DFB über die Konsequenzen aus dem Abbruch entscheiden. Da der Becher offensichtlich aus einem Block mit Fans des VfL Bochum geworfen wurde, dürfte das Spiel gegen diesen Verein gewertet werden. So geschah es jedenfalls nach dem Abbruch der Partie im Hamburger Millerntor-Stadion im April 2011, als der Becherwurf aus den Reihen der St.-Pauli-Fans gekommen war. Die Spielordnung der DFL und die Rechts- und Verfahrensordnung des DFB sehen für den Fall, dass ein Klub für den Abbruch verantwortlich zu machen ist, eine Wertung mit 0:2 gegen diesen Verein und mit 2:0 für den Gegner vor. Es sei denn, das gegnerische Team lag zum Zeitpunkt des Abbruchs höher in Führung - dann zählt dieses Resultat. Da es 2:0 für die Gladbacher stand, als der Referee die Partie beendete, dürfte dieses Ergebnis auch in die Wertung eingehen.
Gittelmann gehe es "den Umständen entsprechend ganz gut", sagte Schiedsrichter-Chef Fröhlich im Interview der Sportschau. Er betonte jedoch, dass es nicht nur um den körperlichen Schaden gehe, der sich "Gott sei Dank in Grenzen" halte. "Was in einer solchen Situation auch eine ganz große Rolle spielt, ist der mentale Schaden", der entstehe, "wenn man von hinten unvermittelt von einem vollen Bierbecher getroffen wird". Man werde Gittelmann, der auch international als Assistent tätig ist, "nach besten Kräften unterstützen, damit er diesen Vorfall auch mental bestmöglich verarbeiten kann", wird Fröhlich auf der Website des DFB zitiert. Gittelmann selbst sagt, er werde sich "ein paar Tage nehmen, um zur Ruhe zu kommen und die Sache zu verarbeiten". Er sei "froh, wenn ich schnellstmöglich wieder auf den Platz zurückkehren kann".
Erstmals versagt die Torlinientechnologie
Am Samstag kam es in der Bundesliga zu einem Novum: Erstmals seit ihrer Einführung in der Saison 2015/16 lieferte die Torlinientechnologie ein offensichtlich falsches Ergebnis. Im Spiel des 1. FSV Mainz 05 gegen Arminia Bielefeld (4:0) vermeldete das System nach einer Viertelstunde auf der Uhr von Schiedsrichter Felix Zwayer eine Torerzielung, obwohl der Ball die Bielefelder Torlinie nach einem Kopfball von Moussa Niakhaté nicht vollständig überschritten hatte. Zwayer entschied nach dem Signal zwar zunächst auf Tor, war jedoch wie sein Assistent, der den Ball im Spiel ebenfalls nicht hinter der Torlinie gesehen hatte, skeptisch und bat schließlich seinen Video-Assistenten Martin Thomsen in Köln, ihm die Bilder in der Review Area am Spielfeldrand zu zeigen.
Der Referee wollte sich persönlich überzeugen, um "den Spielern eine authentische Erklärung anbieten zu können", wie er im Interview nach dem Spiel sagte. Nach dem On-Field-Review nahm Zwayer den Treffer zurück und erläuterte den Spielern seine Entscheidung - es lag offenkundig ein Fehlalarm vor. Als Fernsehzuschauer mag man diese Angelegenheit als klar und eindeutig empfinden, aber wenn man sich in die Situation des Unparteiischen und des VAR versetzt, ahnt man, dass bei ihnen der Puls in diesem Moment deutlich in die Höhe gestiegen sein wird. Denn wenn eine Technologie sieben Jahre lang fehlerfrei funktioniert, rechnet man nicht unbedingt mit einer Panne und zweifelt womöglich eher an der eigenen Wahrnehmung.
Gesunde Skepsis statt blindem Vertrauen in die Technik
Deshalb ist es Zwayer und Thomsen hoch anzurechnen, dass sie der Technik nicht blind folgten, sondern Zweifel hatten und ihren eigenen Augen mehr Vertrauen schenkten. Wie es zu diesem Fehler kam, muss nun der Anbieter Hawk-Eye aufarbeiten, der weltweit führend in der Ballverfolgungstechnologie ist. Sein System funktioniert auf der Grundlage von Kameras, die unter dem Stadiondach angebracht sind und die Position des Balles genau einfangen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen kann so berechnet werden, ob der Ball die Torlinie vollständig überschritten hat. Bislang gab die Technik keinen Anlass zur Beanstandung.
In Mainz aber erhielt Schiedsrichter Zwayer zum einen das Torsignal auf seiner Uhr nicht wie gewohnt sofort, sondern erst mit deutlicher Verzögerung. Zum anderen zeigte die grafische Animation für das Fernsehen, das sogenannte Play-out, den korrekten Ort des Balles im Augenblick des Signals: vor der Torlinie. Dennoch löste das System den Toralarm aus. Dabei hatte ein Mitarbeiter von Hawk-Eye es wie üblich vor dem Spiel neu kalibriert, das Schiedsrichterteam hatte es zudem einem Praxistest unterzogen. Dabei gab es keine Auffälligkeiten. Am Ende aber musste der Schiedsrichter mithilfe des Video-Assistenten gewissermaßen die Technik überstimmen. Die Bundesliga ist fast 60 Jahre nach ihrer Gründung um ein Kuriosum reicher.
Quelle: ntv.de