Olympia

Wie sauber ist Olympia 2018? "Die Schlacht gegen Doping ist vorbei"

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Olympischer Saubermann? Thomas Bach, IOC-Präsident.

(Foto: AP)

Placebo-Diplomatie zwischen Nord- und Südkorea. Zerstörung jahrhundertealter Naturschätze für 16 Tage Olympiaspaß. Der russische Staatsdopingskandal, den das Land weiterhin abstreitet und den auch das Internationale Olympische Komitee IOC partout nicht so nennen will. Die Unfähigkeit von Thomas Bachs Olympiern zu jeglicher Selbstkritik, die statt mit ernsthaften Sanktionen gegen Russland lieber mit Attacken auf den Internationalen Sportgerichtshof Cas glänzen. Der sportjuristische Zirkus um eigentlich gesperrte aber vielleicht doch nicht gesperrte Russen, die sich bis kurz vor der Eröffnungsfeier zu den Winterspielen 2018 nach Pyeongchang klagen wollten. Recherchen über verdächtige Blutwerte bei Hunderten Skilangläufern, von denen rund 50 in Südkorea am Start sein werden. Der Beweis, dass die fälschungssicheren Fläschchen für die Dopingkontrollen immer noch manipulierbar sind. Die Liste ließe sich fortsetzen, die Botschaft lautet: Es mag den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang an Schnee fehlen, vielleicht auch an Charme. Kein Mangel herrscht in der bizarren Olympia-Welt aber an Diskussionen und Kontroversen, das ist auch unter Thomas Bach ungute olympische Tradition geblieben.

Bevor am Samstag die ersten Medaillen vergeben (und in einigen Jahren vielleicht wieder aberkannt - siehe Tabelle unten) werden, fragen sich viele Athleten, Zuschauer und auch die n-tv.de Redaktion: Wie sauber sind die Olympischen Spiele - und warum sollte ich sie mir noch anschauen? Deshalb haben wir genau diese Frage acht Experten gestellt: Den Dopingjägern Travis Tygart und Andrea Gotzmann; Dopingaufklärer Gerhard Treutlein; Ines Geipel, Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfevereins; Silke Kassner aus der DOSB-Athletenkommission; Sportmediziner Perikles Simon; Jens Sejer Andersen von der Konferenz Play the Game und Stadtforscher Christopher Gaffney. Das sind ihre Antworten:

Silke Kassner

Kanutin und stellvertretende Vorsitzende der DOSB-Athletenkommission

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(Foto: Thomas Søndergaard/Play the Game)

"Wie sauber die Spiele sind, kann heute vermutlich keiner beurteilen. Unsere Einschätzung ist, dass nach dem Dopingskandal in Russland sicherlich viele Manipulateure gewarnt sind. Entweder gibt es Whistleblower, die am Ende ihre Geschichte erzählen, oder das Kontrollsystem deckt Doping auf. Wichtig ist, gleich in welches Horrorszenario der Sport nun reingeraten ist: Die Athletinnen und Athleten aus Deutschland trotzen der Situation und gehen bei den Olympischen Spielen an den Start. Sie wurden umfangreich in der Vorbereitung getestet, können dies transparent belegen und wollen nun das Beste auf der Piste, der Schanze und dem Eiskanal aus sich rausholen. Wenn sie es schaffen, auf der Ergebnisliste ganz oben zu stehen, können sie mit Stolz sagen: Ich habe es geschafft. Und das kann ihnen niemand nehmen. Und ja, es lohnt sich die Spiele zu verfolgen, denn unsere Mannschaft hat es verdient unterstützt zu werden. Die Athletinnen und Athleten sind glaubwürdige Botschafter ihrer Sportarten und Vorbilder auf dieser großen Bühne des Sports. Der Russland-Fall ist noch nicht zu Ende. Es müssen alle Fakten und Tatbestände dargelegt, die Entscheidungswege und Urteile transparent gemacht werden. Aber vor allem muss in Russland ein kultureller Wandel erfolgen - der zur Folge hat, dass der Spitzensport nicht zu Lasten der Gesundheit von Athleten geht."

Travis Tygart

Chef der US-Anti-Dopingbehörde Usada

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Travis Tygart

(Foto: imago sportfotodienst)

"Die ganze Sache stinkt wirklich. Das Versagen des IOC, Russlands beispiellosen Angriff auf das Fairplay schnell und entschlossen aufzuklären, hat das öffentliche Vertrauen in die Spiele untergraben. Sportfunktionäre predigen seit Jahren: 'Vertraut uns!' Aber es folgen keine Maßnahmen, um die Bedenken sauberer Athleten zu entkräften. Wie sollen dann Sportfans daran glauben, dass es bei den Spielen wirklich eine Chancengleichheit gibt? Saubere Athleten müssen sich fragen, wer sich wirklich um ihre Interessen kümmert. Es ist ganz sicher nicht ihr Fehler, dass wir in diesem Schlamassel stecken. Jetzt ist es an der Zeit für die Fans, TV-Sender und Sponsoren, sich zusammenzutun und von den Sportfunktionären definitive Maßnahmen zu fordern: einen Wandel und Reformen zum Wohle sauberer Athleten. Die olympische Geschichte diktiert, dass die Spiele unglaubliche individuelle Leistungen, dynamische Wettbewerbe und menschliche Emotionen liefern werden, die uns zusammenbringen. Dennoch wird die Frage über den Spielen liegen: Haben saubere Athleten eine faire Chance? Die jüngsten Maßnahmen der Sportfunktionäre haben aber gezeigt, dass diese Bedenken auf der Prioritätenlisten des IOC ganz weit unten stehen."

Perikles Simon

Sportmediziner und langjähriger Dopingforscher

"Ich habe mich thematisch von dem Nonsens der Dopingkontrollen verabschiedet und mache einen großen Bogen drum herum."

Gerhard Treutlein

Sportpädagoge, Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Ethikpreises des DOSB für seine Arbeit in der Dopingprävention

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Gerhard Treutlein

(Foto: Play the Game / Thomas Søndergaard)

"Ob Athleten wirklich dopingfrei sind, darüber können Dopingkontrollen nichts aussagen. Ich gehe eher in die Richtung wissenschaftlicher Befragungen von Athleten. Die kommen auf 30, 40, 50 Prozent der Sportler bei Spitzensportveranstaltungen, die sich schon einmal gedopt haben. Das heißt, wir haben das große Problem: Saubere Athleten können ihre Sauberkeit nicht über die Kontrollen nachweisen. Dopende Athleten wissen inzwischen meist Bescheid, wie sie um eine Positivprobe herumkommen. Da gilt der alte Satz: Wer sich erwischen lässt, ist arm oder dumm. Sollte man sich die Spiele noch anschauen? Ich kenne genügend ehemalige Spitzenathleten, die selbst sagen: Nein, das schauen ich mir nicht an. Weil sie durchschauen, was dort abläuft. Ich selber schaue es teilweise, aber sehr gezielt. Mich interessiert: Wie kommen Skilangläufer, Biathleten, Nordische Kombinierer ins Ziel. Sind sie müde - oder sind sie in der Lage, gleich ein Interview zu geben? In den vergangenen Jahren waren dort - wie auch in der Leichtathletik über 5000 und 10.000 Meter - oft die Sieger am frischesten, weitgehend ohne Anzeichen von Ermüdung, ausreichend für einen Anfangsverdacht .... Das ist dieses Jahr nicht mehr der Fall. Mir fiel auf, dass bei der Zielankunft viele mehr oder weniger zusammengeklappt sind. Das heißt, irgendwas hat sich dort getan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Athleten eine Anweisung bekommen haben, im Ziel zusammenzuklappen und eine Show nach außen abzuziehen. Was ich aus meiner Erfahrung von vielen Universiaden und Olympia 1972 aber auch sagen kann: Bei solchen Veranstaltungen herrscht eine tolle Atmosphäre - die Atmosphäre kann einen leicht dazu verleiten, den kritischen Blick auf die Veranstaltung zu verlieren."

Andrea Gotzmann

Vorsitzende der Nationalen Anti-Doping-Agentur

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Andrea Gotzmann

(Foto: dpa)

"In Zentrum jeder Betrachtung sollten die sauberen Athleten stehen. Daher halten wir die Entscheidung, das Russische Olympische Komitee für die Winterspiele 2018 zu sperren, für vollkommen richtig. Wenn allerdings in Pyeongchang 169 Athleten unter neutraler Flagge mit dem Namen 'Olympische Athleten aus Russland' starten, dann fragen wir uns, ob diese Maßnahme einem solchen Betrugssystem wirklich gerecht gegenübersteht. Es darf keine 'Schlussstrichmentalität' geben. Im gesamten Kontext wird zudem der Zeitraum nach den Olympischen Spielen ausgeklammert. Unsere Athleten sind hochgradig frustriert, dass einige russische Sportler nicht an Olympia teilnehmen dürfen, aber vorher und nachher in Weltcup-Wettbewerben starten. Die derzeitigen Meldungen, dazu gehören die jüngsten Entscheidungen des Internationalen Sportschiedsgerichts (Cas) sowie die Verschlussproblematik bei Dopingkontrollproben, tragen enorm zur Verunsicherung der Athleten bei. Eine mangelnde Sicherheit bei den Flaschen im gesamten Kontext des Dopingkontrollprozesses ist für die Nada inakzeptabel, auch wenn in Deutschland nur sehr vereinzelt Fälle aufgetreten sind. Wir haben nach Bekanntwerden des Problems umgehend Maßnahmen eingeleitet, um die Sicherheit für die Athleten zu gewähren. Für die Zukunft ist wichtig, dass man sich für die Teilnahme an Sportwettbewerben nicht nur sportlich qualifiziert, sondern auch in der Anti-Doping-Arbeit. Hier muss ein Kriterienkatalog zur Einhaltung des Anti-Doping-Codes verbindlich umgesetzt sein. Wir werden dies gemeinsam mit weiteren führenden Anti-Doping-Organisationen einfordern - auch über die Wada."

Christopher Gaffney

Stadtforscher und Kritiker sportlicher Großprojekte

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Christoph Gaffney

(Foto: Thomas Søndergaard/Play the Game)

"Inzwischen sollte jedem klar sein: Selbst Jahre nach dem Erlöschen einer olympischen Flamme gibt es absolut keine Möglichkeit zu sagen, wie 'sauber' die jeweiligen Spiele waren. Doper sind den Dopingjägern immer voraus, selbst wenn es strikte Testprotokolle der Wada gibt. Der Begriff 'sauber' ist aber interessant - weil wir ihn für die Körper von Spitzenathleten benutzen, die mit wissenschaftlich erzeugten Nahrungsergänzungsmitteln vollgestopft sind, die Trainingsplänen unterworfen sind, die ihnen das Überleben auf dem Mars ermöglichen würden. Und die dank chirurgischer Eingriffe immer mehr die Grenzen des menschlich Möglichen überschreiten können. Spitzensportler sind nicht zwingend gesunde Athleten. Viele, wenn nicht alle, haben ihre Jugendzeit geopfert, um an Olympischen Spielen teilnehmen zu können. Sie werden zwangsläufig obsessiv auf einziges Ziel getrimmt, sind intensiver Medienbeobachtung ausgesetzt, des physischen Wahnsinns des Wettbewerbs, des Bohren und Stocherns der Dopingkontrolleure und anderer aufdringlicher und ungesunder Praktiken. Also nein, die Spiele sind nie 'sauber'. Es ist pure Verblendung auf Seiten der fernen Beobachter, herablassend den Kopf zu schütteln und mit dem Finger auf Athleten zu zeigen: auf jene, die entweder von skrupellosen Funktionären über eine sich permanent verschiebende Grenze geschubst werden. Auf Sportler, die innerhalb einer "Der Sieger bekommt alles"-Mentalität agieren, wo das Risiko zu dopen viel kleiner ist als jenes, es nicht aufs Podium zu schaffen. Und die in einer psychologischen und physischen Hölle konkurrieren, die die meisten von uns in winzige Stücke zermalmen würde.

Wir wissen auch, dass die Spiele in ihrer Organisation schmutzig sind (IOC), in ihrer Vergabe (Bestechung), ihrer Finanzierung (Umgehung demokratischer Prozesse) und beim Bau der Olympiastätten (Umweltverwüstung, Korruption, unnötige Bauten). Durch die Konzentration auf den Sport, auf die Körper unterernährter Athleten, ignorieren wir die komplexen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geflechte dieses wiederkehrenden geopolitischen Spektakels. Um die wahren Olympiasieger zu kennen, müsste man die Bankkonten der Immobilienfirmen checken, der Sicherheitsfirmen, der südkoreanischen Industriegiganten. Und womöglich auch die Schweizer Konten von Thomas Bach und seinen IOC-Kumpanen. Also, warum sollten die Leute Olympia schauen? Mir fällt kein anderer Grund ein als der, sich ein wenig unterhalten zu lassen. Jene, die sich wegen des weltweit anschwellenden Nationalismus' sorgen, sollten sich die Olympischen Spiele ohne Flaggen vorstellen: Würden Sie noch immer zuschauen? Wenn die Antwort 'Nein' ist, sollten Sie nach draußen gehen, etwas mit Ihren Freunden und Ihrer Familie unternehmen. Wenn Ihnen außergewöhnliche sportliche Leistung allerdings Freude bereiten: All diese Sportler treten eh die ganze Zeit gegeneinander an. Schauen Sie ihnen doch einfach bei anderer Gelegenheit zu."

Ines Geipel

Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfevereins

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(Foto: picture alliance / Rainer Jensen)

"Die, die in Pyeongchang dabei sind, können chemisch machen, was sie wollen. Selbst, wenn sie in den Tests auffliegen, ist das juristisch ohne Belang. Jedem ist klar, man kommt raus, so oder so. Das heißt, wir erleben die Chemie-Spiele an sich. Mit sportlichem Wettkampf oder Fairness hat das nichts mehr zu tun. Wer Freude an dieser Art Anti-Spielen hat, wird das anschauen. Wer nicht, muss halt warten und dem Big-Business-Sports weiter dabei zusehen, wie er den Bach runtergeht."

Jens Sejer Andersen

Direktor der Sportjournalismuskonferenz Play the Game

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Jens Sejer Andersen

(Foto: Thomas Søndergaard/Play the Game)

"Spiele und Wettbewerbe finden in einer eigenen Sphäre statt, abgeschottet von normalen Regeln und Regularien der Gesellschaft. Das bedeutet, dass ein Arbeitsvertrag nicht wirklich ein Arbeitsvertrag ist, ein Bankrott nicht wirklich ein Bankrott, eine Medikation nicht wirklich eine Medikation, kriminelle Aktivitäten nicht wirklich Verbrechen." Der Vorlauf dieser Winterspiele hat mich an diese Worte des belgischen Professors Hans Bruyninckx von der Eröffnung der "Play the Game"-Konferenz 2011 erinnert. Dank der Maßnahmen vor allem des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) können wir seine Liste ergänzen. Eine Sperre, zum Beispiel, ist keine Sperre mehr: Trotz des IOC-Banns sendet Russland 169 Sportler nach Pyeongchang - 27 Prozent weniger als bei der russischen Rekordteilnahme von 232 Sportlern bei den Sotschi-Spielen 2014, aber fast so viele wie 2010 in Vancouver, als es 177 waren. Theoretisch nehmen sie als neutrale Athleten teil, aber einst "Neutrale Olympische Athleten" hieß, wurde nun in "Olympische Athleten aus Russland" umbenannt. Neutral ist nicht mehr wirklich neutral.

Jahrelang hat das IOC darauf bestanden, dass der Sportgerichtshof Cas ein unabhängiges Gericht ist mit unangreifbaren Entscheidung. Aber als der Cas eine Entscheidung zu Ungunsten des IOC getroffen hat, hat IOC-Präsident Thomas Bach Reformen eingefordert. Unabhängigkeit könnte keine richtige Unabhängigkeit mehr sein.

Diese Olympischen Winterspiele haben bereits einen Rekord darin aufgestellt, eine Parallelwelt zu erschaffen. Viele in der realen Welt fragen sich, ob olympische Werte wirklich noch richtige Werte sind. Eine Realität allerdings wird noch lange nach Olympia in Südkorea Bestand haben: Die Schlacht gegen systemisches, institutionalisiertes, staatlich organisiertes Doping ist vorbei. Wer immer sie gekämpft hat, sie haben verloren.

Quelle: ntv.de

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