Technik

Die Maske, die Ziele, das Manifest Anonymous, Marke des Widerstands

Die Ziele von Anonymous: beliebig wie die Identität der Unterstützer.

Die Ziele von Anonymous: beliebig wie die Identität der Unterstützer.

Guy Fawkes war ein Terrorist. Seine Maske und der Name Anonymous sind längst zur Marke geworden. Dazu gehört Pressearbeit, ein internationales Netzwerk und Guerilla-Taktik. Wie konnte es dazu kommen? Und wer motiviert sich unter dem Dach eines Namens, der auch für illegale Aktivitäten steht?

Alles begann mit einem manischen Lachen, einem irren Blick. US-Schauspieler Tom Cruise wurde im Jahr 2008 zum Gespött. Jemand hatte ein Video-Interview von Scientology bei Youtube veröffentlicht. Die umstrittene Religionsgemeinschaft ließ die Aufnahme löschen. Doch im Internet kann alles, was der menschliche Geist produzieren mag, kostenlos reproduziert und verbreitet werden. Das ist digitale Realität.

Netznutzer luden Kopien des Videos hoch, Tom Cruise fabuliert noch immer darüber, wie er anderen die Ethik von L. Ron Hubbard "eintrichtern" will. Und sich selbst "unbarmherzig eingetrichtert" hat. Der Streit um die Aufnahme wurde zum Fixpunkt von Anonymous, dem "Hacker-Netzwerk", wie viele die Aktivisten bezeichnen. In San Francisco, in Hamburg, in vielen Städten weltweit gingen Menschen gegen Scientology auf die Straße, positionierten sich vor den Gebäuden der Kirche. Viele von ihnen trugen Guy-Fawkes-Masken.

Die Maske, eines der wenigen Symbole.

Die Maske, eines der wenigen Symbole.

(Foto: REUTERS)

Ein Strichmännchen hatte die Maske zwei Jahre zuvor auf der Online-Plattform "4chan" aus einer Mülltonne gezogen. Sie verdeckt die Identität, macht sie austauschbar. So wurde die Maske zum Markenzeichen von Anonymous. Hacktivisten, Hacker ohne finanzielle Profitabsicht, haben seither viele "Operationen" durchgeführt. Manche, wie Operation Payback, Operation Darknet oder die Zusammenarbeit mit Wikileaks bei der US-Sicherheitsberatungsfirma Stratfor erfolgreich, andere weniger populär.

Marke ohne Absicht

Auch wenn der Überläufer Sabu nach monatelanger Vorbereitung dem FBI einige "führende Hacker" ans Messer lieferte: Mittel- oder langfristig wird das Anonymous nicht schaden, das halten Beobachter für ausgemacht. Wie die Gesichtsbedeckung ist auch der Name Anonymous längst zu einem Label geworden. Unklar ist jedoch: Wie ist es möglich, dass ohne zentrale Koordination eine Marke entsteht? Und wer agiert unter ihrem Namen?

Die einfache Antwort lautet: Anonymous arbeitet mit Werbung wie eine professionelle Firma, mit sämtlichen Inhaltsformen im Netz; Video, Ton, Text, Grafik. So locken sie Interessierte an, die mitunter gar nicht politisch motiviert sind. Videobotschaften von Anonymous haben einen festen Ablauf: mit Intro, bombastischer Musik, einer mechanischen Stimme, die vermeintliche Missstände anprangert – und nicht selten Warnungen ausspricht oder Aktionen ankündigt.

Die Realität ist plötzlich wie Hollywood – Anonymous sind die kriminalisierten Guten, die gegen das repressive System kämpfen. Das zieht viele an. Wie etwa einen Software Engineer von Google, der an der Anti-Pädophilie-Operation Darknet beteiligt war und sich eines Firmenservers bediente, oder ehemalige Geheimdienstler.

Feenkostüme für Neue

Begrüßung auf einem IRC-Server von Anonymous.

Begrüßung auf einem IRC-Server von Anonymous.

(Foto: Screenshot n-tv.de)

In deutschsprachigen IRC-Chatkanälen mit mutmaßlichen Anonymous-Aktivisten wird deutlich, welche Auswüchse die Popularität produziert. So treten immer wieder Neulinge den Unterhaltungen bei, fragen, wie sie sich engagieren können. Und werden meist mit ein paar Nachfragen als wenig fachkompetent enttarnt. Auf den Check folgt der Spaß, etwa mit erfundenen Aufnahmeritualen. So forderten andere Chatteilnehmer von einem Interessenten, er solle Fotos von sich in einem Feenkostüm machen und verschicken. Dann bekomme er auch Zugang zur "mächtigen Software", mit der Hacks kinderleicht von der Hand gingen.

Doch abseits von solchen Anekdoten gibt es auch eine andere mögliche, idealisierte Antwort: Die Inhalte, die Ziele, der Drang nach gesellschaftlicher Veränderung, politisches Engagement abseits vom "Marsch durch die Institutionen" sind Lockstoffe für Sympathisanten. Anonymous dient dabei als Dach, unter dem sich Aktivisten sammeln, als globales Netzwerk, dessen Knotenpunkte sich bei Bedarf an Aktionen gegen gesellschaftliche Missstände beteiligen. Vor Ort oder virtuell. So höhnte einer der Hacker der Operation Darknet: "Ach, die Vergnügungen des Laissez-Faire-Kapitalismus - der Annehmlichkeiten wie Pädophilie hervorbringt."

Aktuell etwa kündigte "AnonAustria" per schriftlicher Mitteilung an, auf die Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Österreich am 1. April mit der Veröffentlichung einer "Gegenüberwachung" zu reagieren. E-Mail-Konten mehrerer Politiker seien geknackt worden. Die Korrespondenzen belegten "illegale Machenschaften", heißt es darin. Der "Leak" solle aufzeigen, was die verdachtsunabhängige Überwachung der gesamten Bevölkerung bedeutet.

Revolutionsrhetorik und Kunst

Operationen von Anonymous
  • "OpPayback"

    Verschiedene Unternehmen frieren im Jahr 2010 Gelder der Enthüllungsplattform Wikileaks ein, nachdem diese Depeschen von US-Diplomaten veröffentlicht hatte. Anonymous attackiert Webseiten von Visa, Mastercard, Paypal sowie der Bank of America.
     
  • "OpDarknet"

    Verschiedene Hacker greifen das Pädophilen-Netzwerk "Lolita City" an und entdecken eigenen Angaben zufolge die größte Sammlung von Kinderpornografie im Netz. Einer der Beteiligten sagt n-tv.de: "Hoffentlich sehen uns die Strafverfolgungsbehörden in diesem Kampf als Verbündete."
     
  • "OpPaperstorm"

    Mit einer Vielzahl von Aufrufen und Druckvorlagen unterstützt Anonymous die weltweiten Proteste gegen das Urheberrechtsabkommen ACTA, auch in Deutschland. Die Bundesregierung setzt die Ratifizierung aus.

Die Aktionen der vergangenen Jahre sind vielfältig, reichen von rein virtueller Unterstützung in den Ländern des arabischen Frühlings über den Drogenkrieg in Mexiko, wo Anonymous-Mitglieder einen Gefangenen freipressten, bis zu aktiven Protesten und Informationsoffensiven gegen das globale Urheberrechtsabkommen ACTA in Deutschland, oder auch der Operation Blitzkrieg, bei dem deutsche Anons zu Angriffen auf Webseiten mit rechtsideologischem Gedankengut aufriefen.

International machten vor allem die Racheaktionen gegen Paypal wegen gesperrter Wikileaks-Konten (Operation Payback), die entlarvenden Veröffentlichungen zum US-Rüstungskonzern HBGary sowie der Sicherheitsberatungsfirma Stratfor die Öffentlichkeit aufmerksam. Für die Marke Anonymous gibt es inzwischen sogar eine eigene, unorganisierte Pressearbeit. Auf Metablogs sammeln Aktivisten die Berichterstattung über das Netzwerk, bei Twitter tauchen mehr und mehr Nutzerkonten auf, teilweise lediglich mit "News" zu Aktionen in einzelnen Ländern.

Häufig nennen Aktivisten "Meinungs- und Informationsfreiheit" als Ziel von Anonymous. Revolutionsrhetorik gehört ebenso dazu wie Fotos und Kunstwerke. Welche Dynamik eine solche Ausdrucksform entwickeln kann, zeigten etwa Künstler im Zusammenhang mit den "Occupy Wall Street"-Protesten. Aufklärung ist offenbar eine der Hauptaufgaben von Helfern, in Papierform, per Video, als Text. So heißt einer der öffentlichen Treffpunkte für Interessierte "why we protest", warum wir protestieren.

Spontan, anonym, unverbindlich

Als ideologische und auch als juristische Legitimation berufen sich dabei nicht wenige auf die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" von John Perry Barlow. Der Text gilt als Meilenstein, vorgetragen auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos im Jahr 1996. Weitere sechs Jahre zuvor hatte Barlow die "Electronic Frontier Foundation" mit gegründet. Heute ist sie ist eine der größten Bürgerrechts- und Lobbyorganisationen in den USA für Freiheit im Netz.

Seit dem 1. März kursiert online nun eine angepasste Version des Textes, veröffentlicht unter dem Banner von Anonymous. Es ist eine Abgrenzung zu und Kritik an den "Regierungen der industriellen Welt": "Ihr entfernt ein Recht nach dem anderen, wie ausgewählte Fleischstücke eines sich noch wehrenden Kadavers", auch wörtlich bezogen auf "ACTA, PIPA, COICA SOPA", was als Zensur gegeißelt wird.  

Die Erklärung betont zudem wie das Original das demokratische Prinzip des Netzes: "Ihr bekommt nicht mehr Macht als jede andere Person, und eure Ideen werden die gleiche Aufmerksamkeit wie jede andere erhalten. Ihr seid hier nicht besonders, rechtschaffen oder mächtig." Jeder könne kommen und gehen, sprechen und schweigen, wann er will, heißt es dort. Der Text formuliert die Prinzipien des Aktivistennetzwerkes: Handle spontan, anonym, unverbindlich.

Rousseau ist Vergangenheit

Das, was in den Medien zuweilen als "Netzgemeinde" bezeichnet wird, erheben die Bearbeiter zum Konzept, bezogen auf Jean-Jacques Rousseau. "Wir formen unseren eigenen Sozialvertrag. […] Möge unsere Gesellschaft menschlicher und fairer sein als eure", haben sie unter Angabe ihrer Online-Identitäten den Originaltext erweitert. Und zum Abschluss: "Wir sind das Internet. Wir sind frei."

Zu dieser Freiheit gehört: Mache dich nicht identifizierbar. Nicht nur im Netz, auch im realen Leben. "Bedecke dein Gesicht. Das wird eine Identifizierung verhindern. Eine Maske ist nicht nötig", heißt es in einer Anweisung. Das auf Youtube verfügbare Video ist seit den Protesten gegen Scientology online. Der Kodex nennt neben Gewaltfreiheit insgesamt 22 Verhaltensregeln für Demonstranten.

Die "Web-Guerilla" Anonymous, wie Medien die Aktivisten zuweilen nennen, warnt Ermittler bei Login in den Chat: "Beamten im Dienste der Strafverfolgung ist der Zugriff auf unserer Server verboten". Doch offenbar geht diese Guerilla auch auf die Straße. Das Video fordert auf: "Organisiert euch in Trupps von 10 bis 15 Personen". Wie bei anderen politischen Interessengruppen auch.

Quelle: ntv.de

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