Für deutsche Navigationssysteme Inder erfassen Landkartendaten
21.03.2002, 11:12 UhrDie Inderin Sonia Sharma reist durch eine Stadt, die sie noch nie gesehen hat - mit dem Finger auf der Landkarte und dem Cursor auf dem Computer. Es ist eine Dienstreise, denn Sharma erfasst die Daten aus europäischen und amerikanischen Karten für Navigationssysteme, die auch deutsche Autofahrer ans Ziel bringen.
Die niederländische Firma Tele Atlas lässt ihre Datenbanken von Fachleuten in Indien füllen. "Die Hälfte unseres Umsatzes machen wir auf dem deutschen Markt", sagt Philippe Funcken, der Direktor des Datenerfassungs- und Softwareentwicklungszentrums von Tele Atlas in Noida bei Neu Delhi. Bosch hält ein Drittel der Anteile an der Firma.
Das Erfassen von Daten, das "Digitalisieren", ist ein Zweig einer neuen Wachstumsbranche. "IT Enabled Services" (ITES) wird sie in der Fachwelt genannt, "von der Informationstechnologie unterstützte Dienstleistungen".
Dort arbeiten keine hoch qualifizierten Programmierer, wie sie auch von deutschen Unternehmen in Indien angeworben werden. Es sind Leute am Werk, die Englisch sprechen und "computerliterate" sind, also mit gängigen Programmen umgehen und Spezialprogramme lernen können.
Das Erfassen von Versicherungsansprüchen und Personaldaten, das Eintippen von Urteilen in juristische Datenbanken - all dies zählt zur neuen Generation der Berufe, die an den Computer gebunden sind. Auch "Callcenter" gibt es immer mehr in Indien, Büros also, mit deren Hilfe Unternehmen Anrufe ihrer Kunden annehmen und bearbeiten.
Kinder der oberen Mittelschicht in Indien lernen Englisch schon zu Hause, in Vorbereitungskursen wird ihr Akzent abgeschliffen, und die Kunden aus den USA, Großbritannien oder Australien, die eine Frage an ihre Fluggesellschaft oder Versicherung haben, merken gar nicht, dass ein Spezialist in Indien am Computer sitzt und ihnen Auskunft gibt.
Auch das Abtippen von Arztbefunden ("Medical Transscriptions") gehört zur neuen Branche: Ärzte in den USA schicken ihre Diktate per Computer nach Indien und bekommen die fertigen Texte zurück. Selbst Ärzte und Pharmazeuten verdingen sich schon mal als "Fernschreiber", während sie auf bessere Jobs warten. Es gibt Pläne junger Inder, die gut Deutsch sprechen, den Service auch deutschen Ärzten anzubieten.
Eine halbe Million Menschen arbeiten in Indien als Programmierer im klassischen IT-Bereich. Aber während die Wachstumsraten in dieser Branche längst nicht mehr die Traummarken früherer Jahre erreichen, boomt der ITES-Sektor. Er wuchs in der ersten Hälfte des Finanzjahres 2001/2002 (1. April) um 70 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Mehr als 70 000 Inder arbeiten in dieser Branche. Die meisten sitzen in Callcentern oder erfassen Daten für CD-ROMs oder Geo-Datenbanken.
Tele Atlas spiegelt die Entwicklung der Branche in Indien wider. 1998 arbeiteten 60 Leute im Bürohaus in Noida, heute sind es 660. Die Löhne sind wesentlich niedriger als in Europa. Und die Produktivität sei gut, sagt Funcken: "Die Qualität stimmt."
Natürlich werden Landkarten und Stadtpläne längst gescannt, und für viele Regionen gibt es schon Datensätze, die Tele Atlas aufkauft. Aber für Autofahrer wichtige Details müssen oft nachgebessert werden.
Pausenlos fahren deshalb Beobachter durch viele Länder, markieren Veränderungen auf ihrem tragbaren Computer und fotografieren Straßenschilder. Per Datenleitung schicken sie das Material an ihre indischen Kollegen. Und die arbeiten es in die Datenbank ein.
Sonia Sharma ist zufrieden mit ihrem neuen Job. Sie arbeitete in einem Laden und lernte in Abendkursen, mit dem Computer umzugehen. Dann bewarb sie sich über das Internet. "Die Arbeit gefällt mir, sie ist sogar kreativ", sagt Sharma.
Jürgen Hein, dpa
Quelle: ntv.de