Digitale Literatur Multimedial und interaktiv
23.09.2002, 11:07 UhrWarum sollte ein Peter Handke seine Texte ins Internet stellen, wenn er mit diesen bei seinem Verlag gutes Geld verdient? Diese Frage macht zwar deutlich, warum namhafte Autoren - von zeitweiligen Ausnahmen wie Rainald Goetz abgesehen - das neue Medium meiden. Das Phänomen "digitale Literatur" trifft sie aber nicht wirklich. Denn in dieser geht es gerade um Formen der Dichtung, die speziell auf den Computer mit seinen multimedialen und interaktiven Möglichkeiten zugeschnitten sind. Zwischen zwei Buchdeckel kann sie deshalb immer nur in reduzierter Weise gepresst werden.
Neue literarische Formen
Einen Einblick in die aktuellen Tendenzen dieser Anfang der neunziger Jahre entstandenen Kunst gibt eine CD-Rom, die dem Band Literatur.digital beigelegt ist. Auf dieser finden sich die zwanzig besten Beiträgen des gleichnamigen Wettbewerbs, der 2001 von T-Online und dem Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) veranstaltet wurde.
Der Verleger Wolfgang Balk, den vor allem die an Max Bense und die konkrete Poesie anknüpfenden digitalen Werke faszinieren, sieht sein finanziell nicht einträgliches Engagement als PR-Aktion: "Ich möchte, dass mit dem Namen dtv Literatur von Homer bis zur unmittelbaren Gegenwart verbunden wird. Und zu dieser gehören für mich auch die sich neu entwickelnden literarischen Formen im Internet."
Was ist das Neue?
Über diese Frage wird seit einiger Zeit heftig gestritten. Nach Ansicht des deutschen PEN-Generalsekretärs Wilfried Schoeller wird das Internet die Literatur verändern und eine neue Kunstform hervorbringen: Die Moderne entsteht in Allianz zwischen Wort und Bild. Für den Stuttgarter Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild dagegen besteht das Neue nur darin, "dass jetzt jedermann schreiben und veröffentlichen kann". Die Kombination zwischen Schrift, Ton und Bild sei bereits von experimentellen Künstlern vorgemacht worden.
Doch Multimedialität ist nur ein Aspekt der digitalen Literatur. Roberto Simanowski, der auch in diesem Jahr der Jury des Wettbewerbs Literatur.digital vorsitzt, nennt neben Hyperfiktion, bei welcher der Leser per Mausklick den Verlauf einer Geschichte mitbestimmt, noch Mitschreibprojekte. Beispielhaft sind hier der Assoziationsblaster und das Kollektiv-Tagebuch Tagebau.
Skepsis angebracht
Beiden Formen steht Simanowski allerdings skeptisch gegenüber: "Hyperfiktion ist meist zu beliebig und kollaborative Schreibprojekte neigen dazu, sich vom Publikum abzukapseln." Die Zukunft gehört dem Herausgeber des Online-Journals dichtung-digital zufolge Werken, die wieder verstärkt auf Autorschaft setzen und in interdisziplinären Teams entstehen.
Jürgen Daiber, Preisträger des Internet-Literaturpreises Pegasus98 und Leiter einer elektronischen Schreibwerkstatt an der Universität Trier, stimmt dem zu: "Ich sehe in der Kooperation von Informatikern, Designern und Literaten eine große Chance. Der Erfolg hängt allerdings davon ab, ob die Textqualität gerettet werden kann."
Technische Effekte statt Sprache
Dass es aber den Netzliteraten zumindest in der Anfangszeit oftmals mehr um raffinierte technische Effekte als um die Sprache ging, kritisiert die Gewinnerin des Ettlinger Internet- Literaturwettbewerbs 1999 Susanne Berkenheger. Ihre Hypertexte "Zeit der Bombe" und "Hilfe! " gelten bereits heute neben den Arbeiten des Amerikaners Michael Joyce als Klassiker.
Berkenheger, die alle ihre Werke selbst programmiert, reizen in erster Linie die interaktiven Möglichkeiten des digitalen Mediums: "Für den Leser solle es so sein, wie wenn er im Theater zugleich zuschaut und auf der Bühne steht." Ihre Texte inszeniert sie zwar optisch, aber nicht multimedial: "Literatur spielt sich vor allem im Kopf ab, wenn Bild und Ton dazukommen, passiert bei mir nichts. " Ihr Projekt "Die Schwimmmeisterin", das zurzeit im Münchner Haus der Kunst gezeigt wird, ist das erste digitale Werk, welches vom Deutschen Literaturfonds gefördert wurde. Dieser tut sich allerdings wegen fehlender Standards mit der neuen Kunstform noch schwer.
Auch Roland Kamzelak vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach, das sich gerade auf seine neue Herausforderung auch technisch vorbereitet, räumt ein: Anfangs werden wir, um die Avantgarde einzufangen, so viel wie möglich sammeln. Erst wenn die Qualität lesbar wird, werden wir inhaltliche Kriterien entwickeln."
Von Thomas Oster, dpa
Quelle: ntv.de