Technik

"Das ist dummes Zeug!" Warum Digitalisierung Filme nicht rettet

Sollen Filme der Nachwelt erhalten bleiben, müssen sie aufbewahrt und geschützt werden. Daran erinnert die UNESCO Jahr für Jahr mit dem Welttag des audiovisuellen Erbes. Reicht denn Digitalisierung nicht? Steht es tatsächlich so schlecht um das Bewegtbild? Man mag es nicht glauben; schließlich waren Filme noch nie so leicht verfügbar wie heute. Martin Koerber, Leiter des Filmarchivs Deutsche Kinemathek, erklärt anlässlich der Berlinale, warum ein Film, der auf DVD erscheint, dadurch noch lange nicht vor dem Verfall gerettet ist. Er erzählt, was es überhaupt mit dem audiovisuellen Erbe auf sich hat, wie es zu bewahren wäre und wie viel uns schon verloren gegangen ist.

n-tv.de: Herr Koerber, noch nie war der Zugang zu Filmen so einfach wie heute. Man hat den Eindruck, alles, was man jemals schauen möchte, per Internet bestellen zu können - sei es als DVD oder direkt als Datei. Wieso ist es dennoch notwendig, das audiovisuelle Kulturerbe zu schützen?

Martin Koerber: Ihr Eindruck ist nicht zutreffend. Auch wenn die Verfügbarkeit von Filmen über Youtube, DVD et cetera beeindruckend scheint, ist doch nur ein ganz kleiner Bruchteil der Filmgeschichte über diese Medien verfügbar. Obendrein sind das Proxies.

Was bedeutet das?

"Vom deutschen Stummfilm sind uns nur 15 Prozent der Filme überliefert." Hier eine Szene aus "Dr. Caligari", einem Stummfilm von Robert Wiene aus dem Jahr 1920.

"Vom deutschen Stummfilm sind uns nur 15 Prozent der Filme überliefert." Hier eine Szene aus "Dr. Caligari", einem Stummfilm von Robert Wiene aus dem Jahr 1920.

(Foto: imago stock&people)

Ein Film ist ein Film in einer Büchse, er ist 35 Millimeter breit und hat eine Auflösung von mindestens 4000 Bildpunkten über die Linie hinweg und so weiter, und das projiziert man auf eine Leinwand. Dasselbe gibt es natürlich auch digital. Auch dann kann es eine hohe Auflösung haben und gut aussehen. Es ist aber nicht dasselbe. Was wir im Internet sehen, ist - wenn wir einen Vergleich zum Tonbereich ziehen - wie ein Symphoniekonzert, das wir durchs Telefon hören. Oder stellen Sie sich ein Gemälde von Picasso vor. Wenn Sie davon eine Postkarte kaufen, nehmen Sie ja auch nicht an, dass dadurch das Gemälde selbst schon ausreichend geschützt wäre. Es ist eine kleine und sehr mangelhafte Repräsentation des Originals. Die reicht aus, um sich das Gemälde vorzustellen - aber vom Original ist es weit entfernt. Merkwürdigerweise ist das jedem klar, wenn es um Gemälde geht. Aber bei Filmen gibt es diese Verwechslung sehr oft.

Man denkt, Digitalisierung bedeutet, dass der Film gerettet ist.

Das ist dummes Zeug! Das bedeutet nur, dass eine weitere Repräsentation des Films in schlechterer Auflösung entstanden ist. Zumindest ist die schlechtere Auflösung die Regel. Man kann da auch absolut hochrangig rangehen, aber das kann niemand bezahlen.

Was also heißt es, wenn man das audiovisuelle Erbe schützen will?

Es bedeutet, die Ausgangsmaterialien - also Originalnegative und gut erhaltene Kopien in voller Auflösung - konservatorisch zu betreuen und zu erhalten, und zwar der verfügbaren Filme und erst recht der bisher nicht verfügbar gemachten Filme.

Wie konkret geht man gegen den Verfall der Filme vor?

Zuallererst durch sachgerechte Lagerung. Sie müssen kühl und dunkel aufbewahrt werden, Farbfilme sogar bei Minustemperaturen. Digitalisate, also digitalisiert vorliegende Filme, müssen in gesicherten Rechenzentren archiviert werden. Außerdem muss der Zustand der Filme regelmäßig geprüft werden, und unter Umständen müssen sie auf neue Träger umkopiert werden.

Wie viele Filme aus dem deutschen Filmerbe sind schon verloren gegangen?

Das werden zwischen 50.000 und 100.000 Filme sein. Vom deutschen Stummfilm beispielsweise, einer berühmten Epoche, sind uns nur 15 Prozent der Filme überliefert. Vielleicht haben wir Glück gehabt, und es sind die besten 15 Prozent, die bewahrt wurden. Aber das weiß man natürlich nicht. Pro Jahr wurden damals 200 bis 400 Filme produziert.

Was alles umfasst denn das audiovisuelle Erbe? Gehören auch Fernsehsendungen dazu?

Meiner Ansicht nach zumindest zum Teil. Einen "Tatort" von Dominik Graf würde ich für deutsche Filmgeschichte halten, aber vielleicht nicht jede Nachrichtensendung. Da ist die Eingrenzung schwierig. Aber im Fernsehen entstehen mehrere hundert Produktionen im Jahr, von denen man sagen würde, dass das potenziell Filmerbe ist. Ob die alle überleben – da habe ich meine Zweifel.

Für Bücher gibt es in Deutschland eine Pflichtabgabe fürs Archiv. Für Filme also grundsätzlich nicht?

Nein, nur eingeschränkt für solche, die eine öffentliche Filmförderung genießen. Von denen muss man ein Pflichtexemplar abgeben. Das heißt aber auch bloß, eine Filmkopie oder neuerdings eben ein DCP, eine digitale Form der Filmkopie. Aber das ist eine sinnlose Regelung. Denn eine Filmkopie ist wertlos, da sind wir wieder bei den Proxies. Die belastet nur die Archive. Wenn man nicht das Negativ im Archiv deponiert, sondern nur eine Kopie, dann hat man da ein Material, mit dem man später nichts mehr anfangen kann. Es enthält den Film eben nicht in voller Auflösung. Und er liegt dann nicht in einer Form vor, aus der er sich in Originalqualität regenerieren ließe.

Wie sähe die Alternative aus?

Es geht darum, die Masterdateien zu archivieren. Die sind aber die verwundbarsten und die größten. Das wird dann auch kostenintensiv. Und die Produzenten wollen sie nicht hergeben, weil sie denken, dass sie damit ihr kostbarstes Teil verlieren. Sie verstehen nicht, dass Archivierung Sicherung bedeutet. Viele meinen, dass Archivieren Abgeben bedeutet. Das schwingt ja leider auch bei dem Wort Pflichtabgabe mit. Dabei geschieht eigentlich das wunderbarste, das man sich vorstellen kann: Die öffentliche Hand übernimmt die Verantwortung für das Material und zahlt dafür, es zu erhalten. Das ist eine Versicherung, die nichts kostet. Aber bis das alle verstanden haben, ist es noch ein weiter Weg.

Gehören auch Computerspiele zum audiovisuellen Erbe?

Audiovisuell sind die zweifellos. In Berlin gibt es ein Computermuseum, das sich mit ihrer Archivierung beschäftigt. Und dann sind da auch noch die Handyfilme und alles, was man auf den Tablets laufen lässt. Das ist noch ein weites Feld, für das es noch gar keine traditionell eingefahrene Archivierung und Institutionalisierung gibt, was man aber ins Auge fassen könnte.

Wie trennt man bei einer Pflichtabgabe die Spreu vom Weizen? Oder hat jeder noch so misslungene Film ein Anrecht auf Archivierung?

Erbe ist alles. Bleiben wir im Kinobereich, gehört für mich zum deutschen audiovisuellen Erbe jeder Film, der in Deutschland aufgeführt wird. Auch ein amerikanischer Film wie "Schindlers Liste" ist ein Film, der in Deutschland politisch viel bewegt hat. In seiner deutschen Fassung würde er dazugehören. Wer weiß, wer die deutsche Fassung sonst aufhebt, wenn wir das nicht machen.

Für die Archivierung gibt es keine bundesweit einheitliche Regelung. Gibt es überhaupt Regelungen?

Die gibt es. Aber sie erfassen nicht genug. Für uns ist sehr schwer vorherzusehen, was für zukünftige Forschungen von Interesse ist. Insofern wäre ich dafür, bei der Archivierung eine Vollständigkeit anzustreben. Ich würde keinen Unterschied machen. In 80 Jahren kann auch der banalste Film plötzlich von Interesse sein. Wenn wir zurückblicken, sind wir doch froh über jeden Fetzen, den wir aus den 20er-Jahren noch haben, auch wenn es kein großer Kunstfilm ist. Sagt er uns was über die Kinogeschichte dieser Zeit? Sagt er uns was über eine bestimmte Schauspielerleistung? Sagt er uns was über die Karriere eines der Beteiligten? Sagt er uns was über die Mentalität der Produzenten und der Gesellschaft, die so was produzieren wollte? Wir sollten keine Best-Of-Sammlung anstreben. Was wichtig ist, entscheidet sich mitunter erst in der Zukunft.

Gibt es Länder in Europa, die ihr audiovisuelles Erbe besser pflegen als Deutschland?

Auf jeden Fall. Frankreich ist ein ausgesprochen cinephiles Land. Da ist die Filmgeschichte ein zentrales Thema in der Kultur - während sie bei uns ein Randthema ist. Jeder Franzose hat in der Schule eine filmgeschichtliche Erziehung genossen; es ist selbstverständlich, dass man ins Kino geht. Die französischen Filme sind in Frankreich sehr viel stärker besucht als die deutschen Filme in Deutschland. Dass Filme Kultur sind, dass sie wichtig sind, dass man sich über sie unterhält, dass man über Filme Bescheid weiß, dass man mit einem Bankdirektor nicht nur über Zahlen, sondern auch über Filme sprechen kann, das ist in Frankreich selbstverständlich. In Deutschland ist es das nicht. Bei uns ist Film ein populäres Jugendmedium, zunehmend auf dem Rückzug zugunsten anderer Medien. Der Arthouse-Bereich ist nur noch ein Randthema.

Was muss sich in Deutschland ändern?

Zum Beispiel das Bewusstsein dafür, wie man als Gesellschaft mit dem audiovisuellen Erbe umgehen will. Die Gesellschaft muss sich Filmkultur leisten wollen. Dabei muss man begreifen, dass der Schutz dieses Erbes eine Aufgabe ist, die besteht, solange Menschen leben. Das ist wie bei jedem anderen Erbe auch: Architektur, Bücher, Musik, Volkstanz. Wenn wir diese Dinge nicht dadurch, dass wir uns fortwährend damit beschäftigen, am Leben erhalten, dann werden sie verschwinden.

Mit Martin Koerber sprach Andrea Schorsch.

Quelle: ntv.de

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