Wirtschaft

Deutsche Firmen und der B-Day Das fürchtet Siemens bei einem Brexit

Siemens' Prestigeprojekt "The Crystal" im Osten Londons soll zeigen, was in einer Stadt der Zukunft alles möglich ist. Zurzeit ist diese Zukunft allerdings ein wenig überschattet.

Siemens' Prestigeprojekt "The Crystal" im Osten Londons soll zeigen, was in einer Stadt der Zukunft alles möglich ist. Zurzeit ist diese Zukunft allerdings ein wenig überschattet.

(Foto: n-tv.de)

Für die deutschen Firmen in Großbritannien steht viel auf dem Spiel. Kommt es zum Brexit, erwartet sie eine jahrelange Hängepartie. "Diese Unsicherheit ist Gift für uns", sagen Siemens-Mitarbeiter. Und nicht nur das ist ein Problem.

Nur noch wenige Tage, dann ist die Entscheidung gefallen. Dann wissen die deutschen Unternehmen in Großbritannien, ob alles so weiter gehen kann wie bisher – oder ob es Zeit für Notfallpläne wird: Wenn nämlich die Briten am Donnerstag den Ausstieg aus der EU beschließen sollten.

In Siemens spektakulärem Glaspalast in London, dem "Crystal", sieht man einem Brexit mit großer Sorge entgegen. "Dann erwarten uns jahrelange Verhandlungen mit der EU", sagt Sprecherin Anne Keogh. Sie sitzt im Café des erst vor wenigen Jahren errichteten Prestigeprojekts und blickt auf das Hafenbecken hinaus. "Während dieser Zeit wird es für uns schwierig sein, weiter zu wachsen." Es sei unmöglich, langfristige wirtschaftliche Investment-Entscheidungen, die etwa für den Bau neuer Fabriken nötig sind, zu planen, so Keogh. "Diese Unsicherheit ist Gift für uns."

Ähnlich sieht das Ulrich Hoppe, Chef der Deutsch-Britischen Industrie- und Außenhandelskammer. Sein Büro liegt nur mehrere Hundert Meter vom Buckingham Palast entfernt, er vertritt Hunderte deutsche Firmen in Großbritannien. Für einzelne Unternehmen in der deutschen Wirtschaft wäre ein Brexit "hochproblematisch", sagt er. Gerade wenn es darum gehe, Investitionen neu zu überdenken, seien langfristig andere Standorte in der EU interessanter als Großbritannien. Hoppe geht davon aus, dass nach einem Ausscheiden aus der EU das regulative Umfeld deutlich komplizierter wird: Allein die Frage "Wie wird eine Arbeitsgenehmigung für ein paar Monate erteilt?", könnte zum Problem werden.

Bislang ist noch völlig unklar, wie nach einem Brexit die künftigen Beziehungen Großbritanniens mit der EU aussehen könnten. Möglicherweise wird Großbritannien den Binnenmarkt verlassen - ein Szenario, das viele deutsche Firmen verschreckt, sind sie doch oft auf Im- und Exporte angewiesen. Siemens etwa erbaut gerade in Hull seine 14. Fabrik im Königreich, ein Werk für Offshore-Windräder. Hier werden Rotorblätter hergestellt, die Motoren kommen aus Dänemark. Wenn für sie künftig Zoll anfällt, könnte das Geschäft mühsamer und deutlich teurer werden. Kein Wunder daher, dass das Unternehmen, das seit 170 Jahren in Großbritannien tätig ist, erst kürzlich in einem Brief an seine Mitarbeiter vor den Folgen eines Brexits und höheren Kosten für Siemens gewarnt hatte.

Binnenmarkt nur bei Freizügigkeit

Ein anderes mögliches Szenario sieht Handelsbeziehungen zur EU wie mit Norwegen oder der Schweiz vor. Danach könnte Großbritannien Teil des Binnenmarktes bleiben, müsste sich aber an EU-Regeln halten und auch weiter die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren - was die Brexit-Anhänger vehement ablehnen. Gerade die hohe Zahl von Zuwanderern aus der EU, die im vergangen Jahr netto bei 184.000 lag, ist eines ihrer stärksten Argumente gegen die Gemeinschaft.

Großbritannien in Zahlen

Großbritannien ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht Europas und der drittgrößte Handelspartner Deutschlands - noch vor Frankreich und China. Mehr als 2500 deutsche Unternehmen sind in Großbritannien aktiv. Die Direktinvestitionen belaufen sich auf rund 110 Milliarden Euro.

Für Firmen wie Siemens ist jedoch gerade diese Zuwanderung essentiell. Zwar sind von den 14.000 Angestellten 93 Prozent Briten. "Aber die 7 Prozent, die keinen britischen Pass haben, sind sehr wichtig: Wegen des Wissenstransfers, für Innovationen und neue Projekte", so Keogh. "Wenn es für Deutsche und andere EU-Bürger schwieriger wird, hierhin zu kommen, wird das ein Problem für uns."

Das betrifft nicht nur Siemens, sondern auch viele kleine und mittelständische Unternehmen in Großbritannien, die Siemens zuliefern und insgesamt rund 23.000 Angestellte beschäftigen. "Hier arbeiten viele Europäer, und die britischen Angestellten profitieren von der kulturellen Zusammenarbeit", sagt Mark Jenkinson, der seit mehr als 20 Jahren für Siemens arbeitet und nun als City Director für London zuständig ist. Er hat viele Jahre in Deutschland gelebt, hat eine schwedische Freundin und kann die Brexit-Begeisterung vieler seiner Landsleute nicht nachvollziehen.

Gerade die Argumentation der Brexiteer, mit einem EU-Austritt bürokratische Hemmnisse abzuschaffen, stößt bei Siemens auf Unverständnis. "Es ist ein Mythos, dass wir dann plötzlich keinen Papierkrieg mehr haben", sagt Keogh. "Die britischen Firmen, die uns beliefern, müssen auch weiterhin die EU-Regeln befolgen, da wir unsere Produkte ja in die EU exportieren."

Und noch etwas wäre für Siemens problematisch: So unterstützt die EU mehrere Forschungsprojekte, die für das Unternehmen wichtig sind. "EU-Gelder sind ein Katalysator für viele Vorhaben, die ansonsten womöglich nicht stattfinden würden", so Jenkinson. Viele glaubten offenbar, dass das Geld weiter fließen werde, aber das sei mehr als unwahrscheinlich.

Für genauso unwahrscheinlich hält er die Theorie der Brexit-Anhänger, dass man die EU nicht mehr brauche und sich plötzlich auf andere Märkte wie China oder das Commonwealth konzentrieren könne. "Wir handeln ja bereits mit ihnen, wieso sollte der Umfang des Handels plötzlich viel größer werden, nur weil wir die EU verlassen?" Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China sei deshalb nicht stärker, "weil das nicht so leicht ist".

Schon jetzt hat die ganze Brexit-Diskussion deutschen Unternehmen geschadet, da ist man sich bei Siemens sicher. Und sei es nur, weil sie in den vergangenen Monaten keine größeren Investment-Entscheidungen durchführen konnten. Zurzeit stehe "alles auf Hold", so Keogh. Außerdem beschäftige die Debatte zahlreiche Menschen im Unternehmen, schließlich sei es selbstverständlich, eine vernünftige Risiko-Prävention zu betreiben: "Auch wenn es schwierig ist, Notfallpläne zu entwickeln, wenn man nicht genau weiß, wie es weitergeht."

Quelle: ntv.de

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