Ökonomen fordern echte Reformen "Der Regierung fehlt eine Strategie für Wirtschaftswachstum"
28.10.2025, 15:53 Uhr
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Die Bundesregierung müsse eine umfassende Reform-Agenda entwickeln, mahnt Ifo-Chef Fuest.
(Foto: picture alliance / dts-Agentur)
Einzelmaßnahmen statt des versprochenen Herbsts der Reformen - Wirtschaftswissenschaftler stellen Schwarz-Rot kein gutes Zeugnis aus. Dabei gäbe es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die schwächelnde Wirtschaft anzukurbeln.
Während wie bereits vor einem Jahr lautstark über Migration gestritten wird, ist es um die Wirtschaftsflaute eher still geworden. Der Himmel ist längst grau, der von Kanzler Friedrich Merz versprochene "Herbst der Reformen" lässt jedoch auf sich warten. Die beim Bürgergeld geplanten Änderungen mögen bei Kritikern das Gerechtigkeitsempfinden stärken, nennenswerte Einsparungen bringen sie erst einmal nicht. Was stattdessen nötig wäre, ist neues Wachstum. Seit nun schon sechs Jahren wächst die deutsche Wirtschaft nicht mehr.
Die Bundesregierung hat Wachstum "in den Mittelpunkt ihres Koalitionsvertrags gestellt und das Problem damit eigentlich richtig benannt", konstatiert Ifo-Chef Clemens Fuest im Interview mit ntv. "Was bislang noch fehlt, das ist eine Strategie, um wieder zu Wachstum zu kommen." Das Hauptproblem in seinen Augen: seit Jahren sinkende Investitionen von Unternehmen. Diese wären der "entscheidende Wachstumstreiber". Doch es fehle "die richtige Agenda", moniert der Topökonom. "Da gibt es Ansatzpunkte, verbesserte Abschreibungen. Aber da ist noch sehr, sehr viel zu tun."
Die versprochenen staatlichen Investitionen in die Infrastruktur werden nach Einschätzung von Ökonomen zu großen Teilen zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt. "Die derzeitige Zweckentfremdung eines erheblichen Teils der Mittel muss gestoppt werden", sagt Fuest ntv. "Bei den Sonderverschuldungen muss darauf geachtet werden, dass zusätzliche Schulden vollständig für zusätzliche Investitionen beziehungsweise Rüstungsausgaben verwendet werden."
Große Sorge der Bürger
Neben mehr privaten Investitionen fordert der Ifo-Chef ein größeres Arbeitsangebot und mehr Innovationsfähigkeit. "Um diese Ziele zu erreichen, ist ein Maßnahmenbündel erforderlich, das von Reformen der sozialen Sicherungssysteme über Bürokratieabbau und Deregulierung bis hin zu einer überzeugenden Migrationspolitik reicht, die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt stärkt und Zuwanderung in die Sozialsysteme reduziert", sagt Fuest.
Die wirtschaftliche Lage zählt für die Bundesbürger zu den wichtigsten Themen, wie eine aktuelle Forsa-Umfrage für ntv zeigt. "Die ohnehin seit Längerem überaus negativen Wirtschaftserwartungen der Bundesbürger haben sich in dieser Woche nochmals verschlechtert", berichten die Meinungsforscher. "Nur noch 14 Prozent rechnen mit einer Verbesserung, 66 Prozent hingegen mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Land."
Die Kauflaune ist in der Folge gerade wieder gesunken, wie die Konsumforschungsinstitute GfK und NIM melden. Die Forscher verweisen auf die "anhaltend angespannte geopolitische Lage, wieder zunehmende Inflationsängste und wachsende Ängste um den Arbeitsplatz". Die Deutschen versuchen daher, ihr Geld zusammenzuhalten.
Die Sparquote ist im ersten Halbjahr trotzdem leicht zurückgegangen, wie das Statistische Bundesamt meldet. In Umfragen sagen immer wieder viele Befragte, dass sie derzeit gar nicht oder weniger sparen, weil die Kosten für tägliche Ausgaben wie Lebensmittel gestiegen sind. Preissteigerungen sind laut einer aktuellen Umfrage immer noch die größte Sorge der Deutschen.
Neue Jobs und neue Firmen fehlen
Noch mehr Sorgen müssen sich Beschäftigte in bestimmten Bereichen um ihren Arbeitsplatz machen. Die Arbeitslosigkeit hatte kürzlich die Marke von drei Millionen Menschen ohne Job überstiegen. Größer ist die Gefahr auf dem Arbeitsmarkt allerdings durch fehlende neue Stellen.
Die Zahl der neu gemeldeten offenen Stellen sei dramatisch niedrig, warnt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Arbeitsagentur. "Die Jobchancen von Arbeitslosen sind seit Jahren dramatisch gesunken. Das ist kritisch, weil sich Arbeitslosigkeit irgendwann verfestigt. Die Leute kommen da dann einfach nicht mehr raus", sagte Weber dem "Spiegel". "Der größte Teil davon geht auf das Konto des aktuellen Wirtschaftsabschwungs."
Neben neuen Jobs mangelt es zudem an neuen Unternehmen, die Zahl der Gründungen ist deutlich gesunken. Weber fordert eine klare wirtschaftspolitische Linie, auf deren Basis Unternehmen planen können, um mehr Wirtschaftswachstum zu schaffen.
Würden wieder mehr Menschen Arbeit finden, könnte sich auch der Staat über nennenswerte Summen freuen. Denn dann sinken nicht nur die Sozialausgaben, sondern es fließen zusätzliche Steuern und Abgaben. "Wenn 100.000 Arbeitslose in einem Jahr in die Erwerbstätigkeit kommen, bringt das dem Staat insgesamt drei Milliarden Euro an Einsparungen und neuen Einnahmen", rechnete Weber ntv vor.
Mehr Arbeitsanreiz, mehr Innovation
Sowohl das IAB als auch das Ifo-Institut fordern, die Grundsicherung so zu gestalten, dass sich Arbeiten im Vergleich dazu finanziell stärker lohnt. Möglich wäre das demnach durch eine Bündelung der verschiedenen Sozialleistungen, also auch Wohngeld und Kinderzuschlag. Die Zuverdienstgrenzen müssten so gesetzt werden, dass es sich lohnt, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Neben milliardenschweren Einsparungen würde dies nach Berechnungen des Ifo-Instituts zu einem höheren Arbeitsvolumen von fast 150.000 Vollzeitstellen führen.
Eine Wachstumsagenda müsse verschiedene Dinge in den Mittelpunkt stellen, zunächst einmal Innovationen und Unternehmensgründungen, sagt Fuest. Es gebe eine ganze Reihe von Reformen, die das Wachstum spürbar steigern. "Wir sind da weder von China noch von Trump abhängig. Wir können das aus eigener Kraft schaffen, aber wir müssen es tun", betont der Ifo-Chef. "Dafür muss sich die Politik zusammensetzen und eine durchdachte und umfassende Reform-Agenda entwickeln - nicht nur Einzelmaßnahmen, die es nicht bringen."
Quelle: ntv.de