Währungskrise in der Türkei Erdogan schadet sich selbst
09.01.2022, 15:18 Uhr
Erdogan fürchtet, dass hohe Zinsen das Wirtschaftswachstum bremsen - wodurch die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit weiter steigen könnte.
(Foto: picture alliance / AA)
Trotz Rekord-Inflationsrate hält der türkische Präsident Erdogan an seiner Niedrigzinspolitik fest. Seine Linie verteidigt er vehement und greift dabei auch auf religiöse Argumente zurück. Dadurch leidet nicht nur die Wirtschaft, sondern er setzt auch seine Wiederwahl aufs Spiel.
Die Währungskrise in der Türkei verschärft sich mehr und mehr: Seit dem Sommer hat sich die türkische Inflationsrate mehr als verdoppelt. Zuletzt erreichte sie im Dezember einen traurigen Rekord von 36 Prozent - und liegt damit so hoch wie zuletzt 2002. Viele Beobachter rechnen damit, dass die reale Teuerungsrate sogar noch höher ausfällt. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll glaubten 94 Prozent der Befragten, die Inflation liege bei über 50 Prozent. Laut der unabhängigen Expertengruppe Enag könnten es sogar mehr als 80 Prozent sein.
Die türkische Lira verzeichnete 2021 indes eine Abwertung von 44 Prozent im Verhältnis zum Dollar - allein in den letzten fünf Handelstagen des Jahres büßte sie 20 Prozent ein. Für viele Türken macht sich der drastische Währungsverfall unlängst in steigenden Preisen bemerkbar - nicht zuletzt aufgrund der hohen Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft von ausländischen Importen.
Die Lebensmittelpreise sind nach Angaben des türkischen Statistikamtes zuletzt um 43,8 Prozent gestiegen. Zum Jahresbeginn legten außerdem die Stromtarife zu, je nach Verbrauch um 50 bis 125 Prozent. Aus Angst vor noch höheren Inflationsraten bunkern viele Menschen mittlerweile große Teile ihrer Ersparnisse in Fremdwährungen und in Gold - das schwächt die eigene Währung zusätzlich.
Immer wieder hochrangige Zentralbanker ausgetauscht
Viele Unternehmen leiden auch unter der hohen Volatilität der türkischen Landeswährung, die es zunehmend erschwert, Ausgaben durch Einnahmen zu decken. "Es ist nahezu unmöglich, in diesem Chaos Geschäfte zu machen", beklagte ein Unternehmer Ende Dezember gegenüber Bloomberg. "Ich kann nicht etwas zu 18 Lira pro Dollar einkaufen und es dann zu 12 Lira verkaufen." Viele sind daher über die Wechselkursrisiken mehr besorgt als über die steigenden Kosten für Kredite und Schulden.
Befeuert wird der Währungsverfall maßgeblich durch die Zinspolitik der türkischen Notenbank, die durch den starken Einfluss von Präsident Recep Tayyib Erdogan getrieben wird. Um an diesem Kurs festzuhalten, hat der Präsident in den vergangenen Jahren immer wieder hochrangige Zentralbanker ausgetauscht - allein der Posten des Notenbankchefs wurde in den vergangenen zweieinhalb Jahren dreimal neu besetzt. Erdogan "hat der Glaubwürdigkeit der Zentralbank dadurch schweren Schaden zugefügt", sagte Janis Hübner, Türkei-Experte der Dekabank, angesichts der aufziehenden Währungskrise im Oktober zu "Capital". Seit September hat Ankara den Leitzins mehrfach gesenkt, zuletzt auf 14 Prozent.
Der türkische Präsident verteidigt seine Linie vehement und greift dabei auch auf religiöse Argumente zurück. So verbiete der Islam sehr hohe Zinssätze oder Spargewinne, bekräftigte Erdogan vergangene Woche. Beobachter stimmt diese Argumentation allerdings skeptisch. "Nicht hohe Zinsen sind im Islam verboten, sondern Zinsen allgemein", erklärt Salim Çevik, Wissenschaftler am Zentrum für Angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Von einem religiösen Standpunkt aus macht es also keinen Unterschied, ob der Leitzins hoch oder niedrig ist." Erdogans religiöse Verweise seien eher ein Versuch, von den jüngsten wirtschaftlichen Misserfolgen abzulenken.
"Erdogan hat nicht so viel Zeit"
Erdogan folge mit seiner Niedrigzinspolitik seiner eigenen Wirtschaftslogik. Der Präsident fürchte, dass hohe Zinsen das Wirtschaftswachstum bremsen - wodurch die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit weiter steigen könnte, erklärt der Türkei-Experte. "Nach Erdogans Wirtschaftsverständnis ist eine hohe Inflation deshalb nicht das Hauptproblem, sondern höchstens eine Nebenwirkung hoher Zinsen."
Mit Blick auf die nächsten Wahlen im Jahr 2023 kommt dem türkischen Wirtschaftswachstum auch eine große Bedeutung für Erdogans politische Zukunft zu. "Um sich die Beliebtheit in der Bevölkerung zu sichern, muss er das Wirtschaftswachstum hochhalten", so Çevik.
Würde die Türkei der gängigen ökonomischen Lehre folgen und den Leitzins im Kampf gegen die Inflation anheben, würde es einige Zeit in Anspruch nehmen, bis die Zinsen wieder sinken könnten. "Erdogan hat aber nicht so viel Zeit, um eine straffe Geldpolitik zu verfolgen und die erforderlichen Strukturreformen durchzuführen", erklärt Çevik. "Also versucht er, die Wirtschaft durch hohes Wachstum anzukurbeln."
Staatshaushalt wird langfristig belastet
Auf dem Papier scheint dieses Vorhaben aufzugehen. So verzeichnete die Türkei 2020 ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent, der Internationale Währungsfonds erwartet für 2021 ein Wachstum von sechs Prozent. Bei der Bevölkerung und der Industrie kommt davon aber kaum etwas an. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent, Schätzungen zufolge arbeitet knapp ein Drittel der Menschen im Land schwarz. Der Tourismus, der in guten Jahren mehr als zehn Prozent des türkischen Bruttoinlandsproduktes ausmachte, brach während der Pandemie deutlich ein und erholte sich auch 2021 nur mäßig.
Die türkische Regierung versucht auf anderen Wegen der Inflation Herr zu werden. Ende 2021 hatte die Notenbank mehrmals Dollar und Euro aus den eigenen Fremdwährungsreserven verkauft. Ende Dezember kündigte Erdogan außerdem ein Maßnahmenpaket an, um die Lira für Sparer und Investoren attraktiver zu machen. Dabei sollen Sparer unter anderen entschädigt werden, wenn sie durch die Wechselkursschwankungen Geld bei ihren Einlagen verlieren.
Kurzfristig konnten diese Schritte der Lira zwar etwas Auftrieb geben, langfristig belasten sie aber vor allem den Staatshaushalt. Ökonomen zufolge sind die türkischen Währungsreserven - abzüglich der Verbindlichkeiten - schon heute negativ. Auch die Auslandsverschuldung habe sich in 2021 von 40 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht.
Geldpolitik wird zum Schlüssel für Urnengang
Mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage wächst auch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Tausende Bürger machten ihrer Wut über die steigenden Lebensmittelpreise schon im Dezember bei Demonstrationen Luft. Auch in Umfragen fällt die Regierungskoalition zunehmend hinter den Oppositionsparteien zurück und erhielt im Dezember sogar nur noch knapp 27,8 Prozent an Zustimmung. Erstmals seit der Gründung der AKP liegt die Regierungspartei damit auf Platz zwei. Mehr als die Hälfte der Befragten gab außerdem an, sie sei mit der Amtsführung Erdogans unzufrieden.
"Solange Erdogan die wirtschaftliche Situation nicht verbessert, schwinden seine Chancen für eine Wiederwahl jeden Tag mehr", erwartet Çevik. Als sie 2002 erstmals bei den Parlamentswahlen antrat, warb die AKP vor allem mit dem Versprechen eines wirtschaftlichen Aufschwungs - und fuhr mit dieser Strategie ein Jahrzehnt lang Wahlerfolg um Wahlerfolg ein. Mit dem Ende der expansiven Geldpolitik der Industrieländer, die der Türkei bis 2013 enorme Kapitalzuflüsse beschert hatte, forcierte die AKP zunehmend die türkische Identitätspolitik, um bei ihren Wählern zu punkten. "Jetzt kommt auch diese Ära zu einem Ende", bilanziert Çevik.
Zwar setze Erdogan aktuell weiterhin auf eine Identitätspolitik "und das sogar mehr denn je", allerdings beeinflussten die wirtschaftlichen Probleme des Landes die öffentliche Meinung nun deutlich stärker. Seine Wirtschafts- und Geldpolitik wird für Erdogan damit zum Schlüssel für den bevorstehenden Urnengang. "Schaut man sich seinen derzeitigen Ansatz für die Wirtschaft des Landes an, wirkt es aber unwahrscheinlich, dass er die Wirtschaft wieder auf Kurs bringen kann."
Dieser Text ist zuerst bei Capital erschienen.
Quelle: ntv.de