Länger oder kürzer arbeiten? Nicht Ökonomen entscheiden, sondern die Menschen
20.07.2023, 17:17 Uhr Artikel anhören
Arbeitskräfte verzweifelt gesucht: Wie lässt sich das Problem lösen? Die Ökonomen sind geteilter Meinung. Aber am Ende macht es sowieso jeder so, wie es ihm oder ihr passt!
(Foto: picture alliance / Jochen Tack)
Um den Fachkräftemangel auszugleichen, schlägt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft vor, die Arbeitszeiten zu verlängern. Doch das ist billige Lobby-Rhetorik. Mehr gearbeitet wird nur, wenn die Bedingungen stimmen, es in die eigene Lebensplanung passt und das Budget es erfordert.
Je öfter wir Aussagen hören, desto eher neigen wir dazu, sie zu glauben. "Illusory Truth Effect", zu Deutsch Wahrheitseffekt, nennt sich dieses Phänomen. IW-Chef Michael Hüther scheint überzeugt zu sein, dass es funktioniert. Mit sturer Regelmäßigkeit fordert der Volkswirt, dass wir alle mehr arbeiten müssen, um unseren Wohlstand zu erhalten. Deutschland sollte nicht allein auf Zuwanderung setzen, um Arbeit zu verteilen, so sein Credo, sondern Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollten selbst anpacken. Im Interview mit der "Rheinischen Post" hat er jetzt noch einmal nachgelegt. Hüther gehört bei volkswirtschaftlichen Themen sicherlich zu den klügsten Köpfen Deutschlands. Aber bei diesem Thema trifft er nicht wirklich den Punkt.
Hüther geht davon aus, dass der deutschen Wirtschaft jährlich rund 4,2 Milliarden Arbeitsstunden fehlen werden – trotz Zuwanderung. Laut einer Wirtschaftsexpertin wären 1,5 Millionen Zuwanderer nötig, um diese Lücke zu schließen. So viele Menschen zu integrieren, sei zu teuer, argumentiert Hüther. Das heißt aber nicht, dass die ultimative Lösung eine 50-Stunden-Woche wäre. Tatsächlich wäre das genauso falsch, wie allein auf Zuwanderung zu setzen. Es würde auch schlicht nicht funktionieren.
Rein volkswirtschaftlich betrachtet, mag Hüthers Rechnung aufgehen. Doch die Arbeitswelt ist kein Gulag, sondern ein freier Markt – er wird reguliert durch Angebot und Nachfrage. Und weil dort an vielen Stellen unattraktive Bedingungen herrschen, geht der Trend genau in die andere Richtung: zu weniger, nicht mehr Arbeit. Dass die deutsche Produktivität in den vergangenen Jahrzehnten weniger gewachsen ist, ist eine Tatsache, hat aber auch viele andere Gründe, als die vermeintliche Faulheit der Belegschaften.
Andere namhafte Ökonomen wie Marcel Fratzscher vom DIW Berlin verweisen etwa auf das ungehobene Arbeitskräftepotenzial unter den Frauen. Stichwort Kinderbetreuung. Gleiche Bezahlung wäre ein weiteres. Sie ist eine Grundvoraussetzung, um Frauen in den Arbeitsmarkt zu ziehen. Das Jahresarbeitsvolumen in Deutschland ist eines der geringsten der Welt? Das mag richtig sein. Aber nicht zwangsläufig, weil Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hierzulande faul wären. Es gibt Millionen Beschäftigte, die weniger Stunden in ihrem Beruf arbeiten als sie gerne möchten. Solche Hürden sollten aus dem Weg geräumt werden. Im Detail sieht auch Hüther das so.
Wenn die Bedingungen stimmen, wird auch mehr gearbeitet
Der Arbeitsmarkt ist vor allem kein "Korsett", wie DIW-Chef Fratzscher seinem Kollegen Hüther im gemeinsamen Interview mit dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft entgegnet. "Fast jeder wünscht sich mehr Flexibilität." Empirische Studien zeigten "recht eindeutig, dass eine geringere Arbeitszeit die Produktivität erhöht, Zufriedenheit und Motivation verbessert und zu weniger Krankheitstagen führt", so Fratzscher. Konstruktive Vorschläge müssten demnach anders aussehen: bessere Bezahlung, mehr Homeoffice und kreative Freiheiten zum Beispiel.
Da ist die Viertagewoche: Auch wenn der DIW-Chef von einer fixen Viertagewoche nichts hält, zeigen Feldversuche - den bislang größten gab es jüngst in Großbritannien - wo die Reise hingeht. Ein Tag weniger arbeiten, mehr Zeit für Familie und Freizeit, wird einfach immer populärer bei den Beschäftigten. Studien namhafter Wissenschaftler kommen zu dem übereinstimmenden Ergebnis: Die Mitarbeiter sind ausgeruhter, motivierter - und fehlen seltener. Will Stronge vom Thinktank Autonomy hat im Rahmen des britischen Modellversuchs auch noch einmal bestätigt, dass die meisten Unternehmen die Produktivität steigern oder mindestens halten konnten. Es gibt zugegebenermaßen auch andere Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen. Vor allem gibt es noch viele offene Fragen hinsichtlich Voll- oder Teilzeit-Bezahlung, auch für welche Branchen das eine oder andere reduzierte Stunden- oder Tage-Modell überhaupt geeignet ist, lässt sich nicht pauschal sagen. Aber auffällig ist, dass die meisten Unternehmen in solchen Versuchsreihen das Modell anschließend auch beibehalten haben.
Weniger Korsett bedeutet auch flexible Regelungen fürs Homeoffice. Eine neue Studie der Firma Scoop Technologies, die Firmen bei der Koordinierung hybrider Personalbesetzung berät, hat ergeben, dass solche Unternehmen in der Zeit von März bis Mai dieses Jahres mehr als doppelt so viele Mitarbeiter hinzugewonnen haben wie die, die nur im Büro arbeiten lassen. Trotzdem rufen viele Unternehmen ihre Beschäftigten nach der Pandemie aus dem Homeoffice zurück. Attraktiver wird Arbeit dadurch nicht.
Auch der miserable Grad der Digitalisierung in Deutschland trägt nicht dazu bei. 2022 kam Deutschland hier auf Platz 13 aller EU-Länder. Wenig überraschend sind die Skandinavier - wie bei den Rankings zur Lebensqualität - auf den obersten Plätzen. Selbst Slowenien ist besser digitalisiert als Deutschland. Würde Deutschland die Digitalisierung konsequent vorantreiben, würde es dazu attraktivere Angebote für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, mehr in Bildung investiert werden, wären die Menschen qualifizierter und damit auch produktiver. Das Gleiche gilt für die Infrastruktur. Wäre beispielsweise das Umland von Städten besser angebunden, das Pendeln mit Bahn oder auch klimafreundlich mit dem Fahrrad leichter, wäre die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch eine andere. Da ist sich DIW-Chef Fratzscher sicher: "Mit deutlich höheren Löhnen, einer besseren Betreuungsinfrastruktur, mehr Wertschätzung und besseren Arbeitsbedingungen haben wir gute Chancen."
Work-Life-Balance, nicht nur Konzernprofite
Alternative Lösungen zu Hüthers Arbeitszeitlücke gibt es also reichlich. Der eigentliche Knackpunkt der Debatte ist allerdings ein anderer: Volkswirtschaftlichen Betrachtungen sind Arbeitskräften am Ende völlig egal. Gerade für die jungen, gut qualifizierten Menschen spielt die Work-Life-Balance eine zunehmend größere Rolle, egal wie Ökonomen, Wissenschaftler das finden. Sie sind auch bereit dafür, den Preis zu zahlen. Der Wohlstandsverlust für die Gesellschaft spielt dabei keine Rolle. Sie sind gleichzeitig genau die Menschen, die sich um einen gut bezahlten Job keine Gedanken machen müssen, weil die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften das Angebot übersteigt. Sie haben die freie Wahl. Damit geben sie den Takt auf dem Arbeitsmarkt vor. Mit mehr Arbeitsstunden - möglicherweise gar unentgeltlich, sind sie bestimmt nicht aus der Reserve - böse Zungen würden sagen hinterm Ofen vor - zu locken.
Ein guter Teil der Menschen, die der Arbeitsmarkt braucht, erbt vergleichsweise viel Geld und ist gar nicht mehr auf sehr hohe Einkommen angewiesen. Laut Hans-Böckler-Stiftung wird in den kommenden Jahren sogar noch erheblich mehr vererbt als bisher angenommen. Auch das sollte nicht außer acht gelassen werden. Schlussendlich gilt wie in jedem anderem Bereich: Die Bedürfnisse und Wünsche jedes Einzelnen sind unterschiedlich. Für die einen lohnt es sich nicht, zu arbeiten, andere können nicht - weil es sich mit der Familie vielleicht nicht vereinbaren lässt - oder aber sie wollen oder müssen auch gar nicht. Anreize können helfen. Aber am Ende ist es die freie Entscheidung jedes und jeder Einzelnen. Der pauschale Appell, mehr zu arbeiten, wird daran nichts ändern. DIW-Chef Fratzscher hält das Heraufsetzen der Wochenarbeitszeit für Berufstätige deshalb für "illusorisch", ebenso wie "kontraproduktiv". Seine Vision vom Arbeitsmarkt der Zukunft: "Wir werden schlicht ein flexibleres System bekommen."
Quelle: ntv.de