Nimmt die Ungleichheit zu? Ökonomen in Parallelwelten
17.01.2018, 09:56 Uhr
Armut wird in Deutschlands Städten immer krasser sichtbar - nicht aber in manchen Statistiken.
(Foto: picture alliance / Paul Zinken/d)
Mit einer großen Studie zur Einkommensverteilung wollen mehr als 100 Wissenschaftler Fakten für die Gerechtigkeitsdebatte zur Verfügung stellen. Doch Deutschlands Ökonomen sind nicht einmal einig, ob die Ungleichheit überhaupt zunimmt.
Die Statistik scheint keinen Zweifel zuzulassen: Die Ungleichheit in Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Der Einkommensanteil der unteren 50 Prozent sank von 26 Prozent im Jahr 1995 auf knapp 17 Prozent im Jahr 2013. Gleichzeitig erhöhte sich der Einkommensanteil der obersten 10 Prozent von 32 auf 40 Prozent. Das geht so aus einer Untersuchung hervor, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung als Teil des "World Inequality Reports" (WIR) vorgelegt hat.
Die Zahlen, die vor allem auf der Auswertung von Einkommenssteuerdaten beruhen, scheinen eindeutig - und rufen doch heftigen Widerspruch hervor: Als "Märchen" bezeichnete unter anderem der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, in einer Reaktion auf die Veröffentlichung des "WIR" in der "Zeit" das Narrativ von der sich stetig öffnenden Schere zwischen Arm und Reich. Die Einkommensverteilung in Deutschland sei seit Jahren stabil.
Vertreter dieser Sichtweise berufen sich unter anderem auf den Gini-Koeffizienten, die gebräuchlichste Maßeinheit für Einkommensungleichheit. Laut OECD-Daten beträgt er seit Jahren etwa 0,30. Damit schneidet Deutschland relativ gut ab. Ein Gini-Koeffizient von 1,0 würde bedeuten, eine Person bekäme das gesamte Einkommen. 0,0 hieße, das Einkommen wäre vollkommen gleichmäßig verteilt.
Erklärtes Ziel des "WIR", der von mehr als 100 Wissenschaftlern unter Führung des kapitalismuskritischen Ökonomen und Bestsellerautoren Thomas Piketty zusammengetragen wurde, war, die Debatten über die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen auf eine solide Datenbasis zu stellen. "Wir wollen nicht definieren, welches das richtige Niveau an Ungleichheit ist", sagt "WIR"-Koordinator Lucas Chancel bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Für die kontroverse Diskussion darüber solle der Bericht mit seiner frei zugänglichen Datenbank die Fakten liefern.
Stichproben oder Steuerdaten?
Doch die Ökonomen sind weiter denn je davon entfernt, sich auf grundlegende Fakten zum Thema Ungleichheit zu einigen. Das fängt beim Streit über die richtigen Zahlen an: Offizielle Statistiken zur Einkommensverteilung unterschätzten das Phänomen regelmäßig, sagt Chancel. Denn die beruhten meist auf Stichproben oder Befragungen, die die Spitzeneinkommen der obersten 1 oder 0,1 Prozent nur unzureichend erfassten. Besser sei es, wie beim "WIR" Einkommenssteuerdaten zu verwenden. Kritiker monieren wiederum, dass der "WIR" sich größtenteils auf Bruttoeinkommen beziehe und die Umverteilung durch Steuern und Sozialsystem weitgehend außer Acht lasse.
Wo sich die Wissenschaftler schon bei den grundlegenden Fakten nicht einigen können, ist Streit bei der Frage nach möglichen Ursachen oder Gegenmitteln gegen eine ungleiche Vermögensverteilung erst recht programmiert. Für konservative Ökonomen wie Fuest war vor allem die Massenarbeitslosigkeit schuld, wenn die Ungleichheit in der Vergangenheit in Deutschland zeitweise wuchs. Mit der Zunahme der Beschäftigung in den vergangenen Jahren seien die Einkommen zumindest nicht mehr weiter auseinandergedriftet.
Links orientierte Ökonomen wie die "WIR"-Autoren sehen dagegen ganz andere Ursachen: Sie diagnostizieren eine globale Verschiebung von Arbeits- zu Kapitaleinkommen, die vor allem Reiche begünstige und massive Privatisierungen seit den 1980er-Jahren, die das Netto-Staatsvermögen in den meisten westlichen Länder auf nahezu oder sogar unter Null habe schrumpfen lassen. Daher seien die Regierungen immer weniger in der Lage, die unteren Bevölkerungsschichten zu unterstützen.
Ein Punkt, dem alle zustimmen
Als Gegenmittel empfiehlt der "WIR" unter anderem staatliche Umverteilung, etwa durch stärkere Belastung hoher Einkommen, und auch "angemessene Mindestlöhne". Für Fuest und andere Konservative sind zu hohe "Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und Transfers" dagegen kontraproduktiv, da Anreize, mehr zu leisten, dadurch geschwächt würden. Steuersenkungen sind für dieses Lager das Mittel der Wahl, um die Wirtschaft im Interesse aller anzukurbeln.
Eine Empfehlung gibt es erstaunlicherweise, auf die sich nahezu alle Ökonomen in Deutschland einigen können: Alle raten zu mehr Investitionen in Bildung. Besonders der Ausbau frühkindlicher Bildung verbessere die Aufstiegschancen von Kindern aus den unteren Einkommensgruppen und trage so dazu bei, ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern.
Quelle: ntv.de