Steinmeiers Dönerspieß irritiert Wie Türkeistämmige in Deutschland ihr Geld verdienen


Türkeistämmige arbeiten öfter im produzierenden Gewerbe als Erwerbstätige ohne Migrationshintergrund.
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Als Gastgeschenk serviert der Bundespräsident in Istanbul Döner. Nichts auf Steinmeiers Türkei-Reise erregt mehr Aufmerksamkeit. Schließlich könnte man den Eindruck gewinnen, Türkeistämmige würden vor allem Grillfleisch zur deutschen Gesellschaft beitragen.
Yunus Ulusoy formuliert es diplomatisch: "Ich war irritiert, als ich gehört habe, dass Bundespräsident Steinmeier einen Dönerspieß in die Türkei mitgebracht hat." Er verstehe die Symbolik. Doch passend sei sie nicht, sagt der Programmverantwortliche Transnationale Verbindungen Deutschland-Türkei am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZFTI) im Gespräch mit ntv.de. Denn der Dönerspieß sei ein Bild aus den 1970er bis 90er Jahren, als sich die ersten Türkeistämmigen in Deutschland selbständig gemacht hätten. "Sie gingen in Branchen, in denen sie Nischen vorfanden, die die Mehrheitsbevölkerung nicht bediente", erzählt Ulusoy. Dieses Bild sei längst überholt.
Ulusoy selbst hat eine akademische Laufbahn eingeschlagen, bereits seit den 1990er Jahren arbeitet der Diplom-Ökonom am ZFTI der Universität Duisburg-Essen. Dabei gehört er zur sogenannten zweiten Generation, seine Eltern waren aus der Türkei eingewandert. "Als ich 1984 anfing zu studieren, war eine Tätigkeit für Ausländer im öffentlichen Dienst nicht denkbar", erinnert sich Ulusoy. "Wegen meiner türkischen Staatsangehörigkeit hätte ich zum Beispiel keine Beamtenlaufbahn einschlagen können, aber auch unsere Vision war eine andere."
Denn als Helmut Kohl 1982 Kanzler wurde, sei eine von dessen ersten Maßnahmen gewesen, die Rückkehr ausländischer Arbeitskräfte zu fördern. Kurz vor Ulusoys Abitur wurden 10.500 DM Prämie für die Rückkehr in die Heimat geboten. "Aus meinem Umfeld gingen viele zurück in die Türkei." Sein Studienfach Wirtschaftswissenschaften habe er nicht nach seinen Wünschen gewählt, sondern mit der Überlegung, was er in der Türkei damit anfangen könnte. "Bei Jura zum Beispiel hätte ich mich auf Deutschland festgelegt."
Das erschien ihm damals unvorstellbar. Denn er konkurrierte mit geburtenstarken Jahrgängen, und Deutschland sei weit davon entfernt gewesen, Einwanderungsland zu sein. Heute können Türkeistämmige einfacher die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und damit etwa Richter werden, oder Bundeswehrsoldat. Auch Polizist zu werden, "war für uns undenkbar", sagt Ulusoy. Die dritte und vierte Generation hingegen hat das gesamte deutsche Bildungssystem durchlaufen und vor allem auch dank des Fachkräftemangels bessere Chancen. Diskriminierung erfahren Studien zufolge zwar auch die Jüngeren. "Aber Arbeitgeber können es sich heute viel weniger leisten, Bewerber mit einem Namen auszusortieren, der ihnen nicht gefällt", sagt Ulusoy.
Und die Chancen von Bewerbern mit ausländischem Namen steigen weiter. Einen besonderen Schub erwartet Ulusoy vom Renteneintritt der Babyboomer. Bisher arbeiten immer noch wenige der Erwerbstätigen, die selbst oder deren Eltern in der Türkei geboren sind, in der öffentlichen Verwaltung: 3,9 Prozent, wie aus dem Mikrozensus 2023 hervorgeht. Bei den Erwerbstätigen ohne Einwanderungsgeschichte sind es 8,9 Prozent. 6,3 Prozent ohne Migrationshintergrund sind Beamte, während nur 1,5 Prozent der türkeistämmigen Erwerbstätigen verbeamtet sind.

Yunus Ulusoy arbeitet seit Ende der 90er Jahre an der Universität Duisburg-Essen.
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Arbeiter dagegen sind unter ihnen mit 18,6 Prozent deutlich stärker vertreten als bei den Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund (8,9 Prozent). Kein Wunder also, dass mehr Türkeistämmige zu den Geringverdienern zählen. Fast ein Fünftel verdient unter 1000 Euro netto, während es bei den Erwerbstätigen ohne Einwanderungsgeschichte zwölf Prozent sind. Jeder Sechste ohne Migrationshintergrund erzielt 3500 Euro netto und mehr, wohingegen nur jeder zehnte türkeistämmige Erwerbstätige diese Einkommenshöhe schafft. Die Erwerbslosenquote ist dem Mikrozensus zufolge mit türkischer Einwanderungsgeschichte (5 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie ohne einen Migrationshintergrund (2,2 Prozent).
Für die erste und zweite Einwanderergeneration waren die Möglichkeiten noch stärker begrenzt. Nischen fanden sie bei ebenfalls türkischen Kunden, wie Ulusoy erzählt. In den 70er Jahren eröffneten die ersten Reisebüros, die nur Tickets für sogenannte Gastarbeiter anboten, sowie erste Geschäfte für türkische Lebensmittel. In den 80er und 90er Jahren folgten Gastronomiebetriebe. Während etwa für einen Handwerksbetrieb ein Meistertitel nötig gewesen wäre, den die meisten nicht hatten, suchten sich Einwanderer aus der Türkei Bereiche, für die weder spezifisches Know-how noch hohe Investitionen nötig waren, wie Ulusoy erklärt.
Arbeiter-Anteil sinkt deutlich
Inzwischen hätten sich die Chancen von türkeistämmigen Erwerbstätigen deutlich verbessert, betont der Wissenschaftler. So habe der Anteil von Arbeitern und Arbeiterinnen unter ihnen im Jahr 2010 noch bei mehr als der Hälfte gelegen. Heute ist es nicht einmal mehr ein Fünftel. Während Türkeistämmige in den 70er und 80er Jahren hierzulande zum Beispiel quasi keine Friseursalons betrieben, sind es heute zahlreiche. "Die Deutschen kamen damals mit den Gastarbeitern in der Zeche oder Fabrik in Kontakt, aber nicht im Dienstleistungsalltag", erklärt Ulusoy. Inzwischen sei zum Beispiel beim Hausbau nicht mehr um migrantische Handwerksbetriebe herumzukommen. "Heute gibt es Unternehmerfamilien teils in der dritten Generation."
Noch immer arbeiten türkeistämmige Erwerbstätige laut Mikrozensus öfter im produzierenden Gewerbe (31 Prozent) als Erwerbstätige ohne Einwanderungsgeschichte (26 Prozent). Fast ein Drittel mit türkischem Migrationshintergrund sind in Handel, Gastgewerbe oder Verkehr tätig, während es bei den Erwerbstätigen ohne Einwanderungsgeschichte weniger als ein Viertel sind. Sonstige Dienstleistungen erbringen ebenfalls ein Drittel der türkeistämmigen Erwerbstätigen, ohne Migrationshintergrund fast 41 Prozent.
Genauere Daten liegen nicht vor. Die Arbeitsagentur wertet lediglich die Arbeitsfelder von türkischen Staatsangehörigen aus, was nur etwa die Hälfte der türkeistämmigen Bevölkerung abbildet. Von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit türkischem Pass arbeiten etwa ein Drittel als Helfer, von den deutschen Beschäftigten nur 16 Prozent. Die Anteile der Fachkräfte sind etwa gleich hoch. Doch bei den Spezialisten und Experten sind die Anteile der deutschen (insgesamt 31 Prozent) jeweils mehr als doppelt so hoch wie bei den türkischen Beschäftigten (insgesamt 13 Prozent).
Bildungschancen, Wohnort und Diskriminierung bremsen
Christian Hunkler vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität vermutet mehrere Ursachen hinter den Unterschieden in der Beschäftigungsstruktur, wie er auf ntv.de-Anfrage erklärt. Naheliegend seien Ungleichheiten im Bildungsbereich, die Konzentration der türkeistämmigen Bevölkerung in den ehemaligen westdeutschen Industriezentren und den dort vorliegenden Arbeitsmarktmöglichkeiten sowie Diskriminierung durch Arbeitgeber, die in bestimmten Berufen, eventuell auch Regionen, unterschiedlich stark ausgeprägt sei.
Der Erfolg in Schule und folglich Ausbildung hängt in Deutschland stark vom sozialen Status der Eltern ab, wie Hunkler ausführt. Türkeistämmige Schülerinnen und Schüler machen seltener Abitur und einen Berufs- oder Studienabschluss. Über verschiedene Bildungsetappen hinweg erzielten türkeistämmige Kinder und Jugendliche zudem meist schlechtere Ergebnisse als andere Migrantengruppen.
In Zukunft jedoch dürften dank des demografischen Wandels in allen Wirtschaftszweigen mehr Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, wie Ulusoy betont. Ohne Zuwanderung würde die deutsche Bevölkerung längst schrumpfen. Fast 30 Prozent haben inzwischen einen Migrationshintergrund. Die größte Gruppe bilden dabei die 2,93 Millionen Menschen mit Migrationsbezügen zur Türkei. Etwa 1,58 Millionen Türkeistämmige haben einen deutschen Pass, rund 1,35 Millionen nur den türkischen. "Wer heute die AfD wählt, wird in 10, 15 Jahren merken, dass er den Alltag nur mit sogenannten Biodeutschen nicht bestreiten kann", sagt Ulusoy.
Nach seiner 60-jährigen Migrationsgeschichte habe Deutschland inzwischen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Ländern, deren Bevölkerung schrumpft, ist der Ökonom überzeugt. "Syrer in Deutschland werden in drei bis fünf Jahren schaffen, wofür Türken Jahrzehnte gebraucht haben."
Quelle: ntv.de