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Kollaps der Meeresschildkröten "Sie haben Dinosaurier überlebt, aber nicht uns Menschen"

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Meeresschildkröten ernähren sich unter anderem von Quallen und Schwämmen.

Meeresschildkröten ernähren sich unter anderem von Quallen und Schwämmen.

(Foto: picture alliance / imageBROKER)

Lederschildkröten sind sympathische Riesen. Die Urzeit-Schwimmer ernähren sich hauptsächlich von Quallen. Jeden Tag fressen sie viele Hundert Kilogramm der glibberigen Nesseltiere. Doch schon sehr bald könnten Quallen unbesorgt durch die Weltmeere gleiten: Die Lederschildkröte und alle anderen Meeresschildkröten sind akut vom Aussterben bedroht. "Sie stehen von allen Seiten unter Beschuss", umschreibt Christine Figgener die Lage. Im "Klima-Labor" von ntv.de nennt die Meeresbiologin Überfischung, Beifang und direkte Ausbeutung als Ursachen - und natürlich Plastik: Tüten, Flaschen und Besteck. Die Auswanderin wurde 2015 bekannt, als sie und ihr Team einer Schildkröte einen Strohhalm aus der Nase zogen und sie die schmerzhafte Prozedur auf Video festhielt. Inzwischen reiht sich auch der Klimawandel in die zerstörerische Liste ein. Der steigende Meeresspiegel überschwemmt Nistplätze an tropischen Stränden. Und dort, wo noch Eier gelegt und ausgebrütet werden können, schlüpfen wegen steigender Temperaturen nur noch Weibchen, wenn überhaupt.

ntv.de: Geht es Schildkröten besser, seitdem wir auf Plastiktrinkhalme verzichten?

Christine Figgener: Es ging nie nur um Strohhalme. Wir wollten zeigen, welche Qualen ein einzelner Plastikstrohhalm im Meer auslösen kann und wie unsinnig viele unserer Einmal-Plastikprodukte sind. Wahrscheinlich kann niemand von sich behaupten, noch nie einen Strohhalm benutzt zu haben. Deshalb fühlen sich viele Menschen mitschuldig. Auf Strohhalme ist nur eine kleine Gruppe Menschen angewiesen. Niemand trinkt sein Bier oder seinen Kaffee damit. Das ist ein Luxusgut, das ein paar Minuten benutzt wird und danach Ewigkeiten in unserer Umwelt herumschwimmt.

Christine Figgener ist promovierte Meeresbiologin und Autorin. Ihr Buch "Meine Reise mit den Meeresschildkröten " ist im März 2023 erschienen. Mit ihrem Mann und ihrem Hund lebt sie in Costa Rica und leitet dort ihre Naturschutzorganisation COASTS, die sich durch Spenden finanziert. Ihre Arbeit kann über den deutschen Förderverein ProMar e.V. unterstützt werden.

Christine Figgener ist promovierte Meeresbiologin und Autorin. Ihr Buch "Meine Reise mit den Meeresschildkröten " ist im März 2023 erschienen. Mit ihrem Mann und ihrem Hund lebt sie in Costa Rica und leitet dort ihre Naturschutzorganisation COASTS, die sich durch Spenden finanziert. Ihre Arbeit kann über den deutschen Förderverein ProMar e.V. unterstützt werden.

(Foto: Thierry Bois)

Die EU hat ja auf das Video reagiert und Einwegplastik verboten. Hat das geholfen?

Auf alle Fälle. Ganz viele Länder haben hingeschaut und überlegt, welche Plastikprodukte wir wirklich brauchen und worauf wir verzichten oder welche Dinge wir aus Sachen herstellen können, die für unseren Planeten besser verdaulich sind. Das muss das eigentliche Ziel sein: weniger Plastik zu produzieren. Die Hersteller sagen, die Verbraucher seien das Problem, weil wir Plastik benutzen und dann nicht richtig entsorgen. Aber Plastikrecycling ist eine Lüge. Das funktioniert nicht wie bei Glas oder Aluminium. Aus Aluminium kann man wieder eine Dose herstellen, aus Plastik werden zwar neue, aber minderwertige Produkte. Downcycling.

Wir brauchen neue Regeln.

Unser Video wird bei Anhörungen als Beweismittel genutzt, um die Politik zu überzeugen, dass etwas getan werden muss, denn von den Herstellern kommt einfach nicht genug. Plastik hat tolle Anwendungsmöglichkeiten, aber wir benutzen es für die falschen Sachen. Aktuell diskutieren die Vereinten Nationen ein weltweites Verbot von Wegwerfplastik. Das sind kleine Schritte, aber 2015 hat kaum jemand darüber gesprochen. Inzwischen weiß jedes Kind, dass das ein großes Problem ist.

In diesem berühmten Video ziehen Sie und Ihr Team einer Schildkröte einen Stromhalm aus der Nase. Blutig und schmerzhaft. Ist das der Alltag für Schildkröten?

Wir treffen häufig auf Tiere, die ein Problem mit Plastik haben. Das muss nicht unbedingt die Nase sein. In vielen Fällen haben Schildkröten Plastik gefressen oder sich mit ihren Flossen darin verheddert. Wir finden auch seit vielen Jahren Babys, die in Plastikflaschen stecken oder Schildkröten, die sich in Autoreifen verkeilen und ertrinken. Das passiert sehr häufig, insofern ist es leider Alltag. Seitdem wir den Strohhalm aus der Nase gezogen haben, wurden auch eine Plastikgabel, ein Plastiklöffel und ein Lutscherstiel gefunden. Das hat vermutlich damit zu tun, wie Schildkröten fressen.

Das passiert gar nicht beim Einatmen?

Nein. Die Schildkröten nehmen beim Fressen Wasser auf. Das wird aber nicht heruntergeschluckt, sondern später wieder durch die Nase ausgestoßen. Dabei bleiben die Plastikobjekte in der Nase stecken.

Durch das Video sind aus 200 Followern fast 15.000 auf Instagram und fast 300.000 auf Youtube geworden. Ist das noch wissenschaftliche Arbeit oder politische?

Ich würde es Aktivismus nennen. Ich finde es schrecklich, wenn Umweltschutz einer politischen Richtung zugeordnet wird, denn letztlich geht es um unsere Lebensgrundlage. Das will nicht in meinen Kopf rein, dass einige Leute in einigen Parteien Umweltschutz nicht wichtig finden. Das akzeptiere ich nicht. Umweltschutz sollte unpolitisch sein.

Wie viel Zeit nimmt diese Arbeit ein?

Inzwischen ist die Hälfte meiner Arbeit wissenschaftlich, mindestens die andere Hälfte Aktivismus. Ich versuche, vor allem Nicht-Wissenschaftlern zu erklären, dass wir unbedingt etwas tun müssen. Denn Wissenschaft ist schön und gut. Aber in meinem Feld der Naturschutzbiologie forschen wir gegen die Zeit. Wir sammeln Daten zu Systemen und Tieren, die die bald nicht mehr existieren, weil sie kurz vor dem Aussterben stehen. Wir können nicht noch 100 Jahre forschen und publizieren, bevor wir etwas unternehmen.

Immer häufiger schlüpfen nur noch weibliche Baby-Schildkröten.

Immer häufiger schlüpfen nur noch weibliche Baby-Schildkröten.

(Foto: REUTERS)

Wie schlimm ist es denn um Schildkröten bestellt?

Wir haben weltweit sieben Arten von Meeresschildkröten und alle stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Es kommt immer auf die Population an, aber es gibt welche, von denen wir schätzungsweise 2030 keine Tiere mehr haben werden.

Die Meeresschildkröten sterben 2030 aus?

Nicht alle, aber einige Populationen. Die Ostpazifische Lederschildkröte ist zum Beispiel ein Kandidat für 2030. Im Moment haben wir von Mexiko bis runter nach Kolumbien noch ungefähr 200 Weibchen pro Jahr. Man muss sich klarmachen: Das passiert zu unserer Lebzeit.

Und schuld ist der Mensch?

Definitiv. Es gibt auch leider nicht nur eine Ursache, Schildkröten stehen von allen Seiten unter Beschuss. Überfischung ist ein Problem, Beifang, die direkte Ausbeutung von Meeresschildkröten und von deren Eiern, aber auch Plastik. Gerade Lederschildkröten sind prädestiniert, Plastik zu fressen, weil sie sich von Quallen ernähren und Plastiktüten aussehen wie Quallen. In Ihren Mägen hat man schon in den 60er und 70er Jahren Plastik gefunden. Auch Düngemittel und Pestizide sind gefährlich. Die fließen vom Feld in den Ozean und lösen eine Art Schildkrötenkrebs aus. Jetzt kommt der steigende Meeresspiegel dazu. Dadurch verlieren Schildkröten Strände zum Nisten. Bei uns in der Karibik sind in den letzten 15 Jahren landeinwärts 60 Meter Strand verschwunden. Es kommt vor, dass Schildkröten aus dem Wasser kommen, einen Platz zum Nisten suchen, keine trockene Fläche finden und wieder ins Wasser krabbeln.

Wo finde ich das "Klima-Labor"?

Dieses Interview ist eigentlich ein Podcast, den Sie auch anhören können.

Wo? Sie finden das "Klima-Labor" bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify und als RSS-Feed. Klicken Sie einfach die Links an.

Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns eine E-Mail an klimalabor@ntv.de.

Ohne Eier gelegt zu haben?

Ja. Das andere große Problem sind die global steigenden Temperaturen. Denn das biologische Geschlecht der Meeresschildkröten entscheidet sich während der Inkubation, also während des Ausbrüte-Vorgangs im Sand. Seit 10, 15 Jahren schlüpfen an den meisten Stränden zu 90 bis 100 Prozent Weibchen, weil höhere Temperaturen zu mehr Weibchen führen.

Nur mit Weibchen funktioniert es auch nicht.

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Bei den erwachsenen Populationen ist das noch kein Problem, aber Meeresschildkröten haben eine extrem lange Generationszeit. Je nach Art dauert es zwischen 20 und 45 Jahren, bis sie Geschlechtsreife erlangen. Aber wenn die Populationen in Zukunft aus 200 Weibchen bestehen und irgendwo noch drei Männchen herumwuseln, können nicht mehr alle Weibchen befruchtet werden. Das sehen wir bei der Ostpazifischen Lederschildkröte: Es gibt Populationen, wo die Weibchen an den Strand kommen, ihre Eier legen und dann einfach nichts mehr schlüpft. Das sind Arten, die seit Millionen Jahren auf der Erde leben. Allein die Lederschildkröte ist mehr als 90 Millionen Jahre alt. Die hat das Aussterben der Dinosaurier überlebt, ...

… aber nicht den Menschen.

Aber nicht den Menschen, genau.

Und welche Auswirkungen hätte ihr Aussterben für unser Ökosystem?

Jede Art hat sich eine sehr spezielle ökologische Nische mit ganz unterschiedlicher Nahrung gesucht. Die Lederschildkröte ernährt sich hauptsächlich von Quallen. Das macht sonst eigentlich nur noch der Sonnenfisch. Und Lederschildkröten sind riesig. Die wiegen zwischen 300 und 500 Kilogramm und müssen jeden Tag fast ihr eigenes Körpergewicht in Quallen fressen, um zu überleben.

Das macht sie sofort noch ein bisschen sympathischer.

Ja (lacht)! Aber vor allem sind Quallen Räuber. Die fressen Fischlarven, Zooplankton und so weiter. Und durch das Düngemittel, das in unsere Meere geleitet wird, gibt es schon heute krasse Quallen-Plagen. Da wir unsere Meere gleichzeitig überfischen, müssen möglichst viele Fischlarven überleben. Wir brauchen also Tiere, die sie beschützen. Ohne Lederschildkröte wird das schwer.

Lederschildkröten werden 300 bis 500 Kilogramm schwer.

Lederschildkröten werden 300 bis 500 Kilogramm schwer.

(Foto: picture alliance / blickwinkel/AGAMI/P. Morris)

Ein anderes Beispiel ist die Echte Karettschildkröte. Die ernährt sich hauptsächlich von Schwämmen. Das sind sehr einfache, hochtoxische Tiere, die in denselben Gebieten wachsen wie Korallen, nur viel schneller. Korallenriffe sind unsere Unterwasser-Regenwälder, unsere blauen Lungen. Die produzieren etwa 50 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen. Mit der Zeit würden diese Schwämme die Korallen überwachsen. Das heißt, Echte Karettschildkröten sind eigentlich Landschaftsarchitekten oder Gärtner, die helfen, Korallen gesund zu halten.

Komplexe Systeme.

Am Ende sind unser Meer und seine verschiedenen Ökosysteme ein riesiger Jenga-Turm, aus dem wir kontinuierlich Arten herausnehmen, ohne zu wissen, was passieren wird. Auch die Wissenschaft kann das kaum einschätzen, weil wir nicht schnell genug hinterherkommen, um alle Zusammenhänge zu verstehen. Aber irgendwann wird der ganze Turm zusammenkrachen, das wissen wir. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Mit Christine Figgener sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet.

Klima-Labor von ntv

Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.

Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?

Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed

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Quelle: ntv.de

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